INTEGRAL WORLD: EXPLORING THEORIES OF EVERYTHING
Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber



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Quelle: Novalis 1/2 2002, S. 26-28.

Wegbereiter einer postmodernen Psychologie

Gedanken zu Ken Wilbers Buch „Integrale Psychologie“

von William River Bento

Mit seinem Genius für synthetisches Denken und seinem unbeirrbaren Einsatz für die Wirklichkeit spiritueller Dimensionen in der menschlichen Seele hat Ken Wilber zu einem epochalen Paradigma postmoderner Psychologie beigetragen. Bedenkt man, dass wir im Zeitalter der Bewusstseinsseele leben, welches eine strenge Annäherung an Fragen der menschlichen Entwicklung und Bestimmung fordert, dann kann man von Wilbers Buch geradezu als einem Prototyp sprechen, obwohl der Autor sein Werk mehr als eine Einladung zum Dialog versteht. Es ist umfassend und sein Inhalt zumindest über weite Strecken bündig und dicht. Auf den ersten mehr neugierigen Blick hin scheinen die Ausführungen des Autors zwar etwas schematisch und vereinfachend zu sein; es so zu beurteilen, wäre jedoch kurzsichtig und auch irreführend, denn für jeden mit den gegenwärtigen Forschungen und Formulierungsversuchen neuer Sichtweisen in der Psychologie Vertrauten dürfte das Buch ein unverzichtbarer Kompass. Mit seiner Hilfe können bei der Lösung der Rätsel des menschlichen Wesens neue Orientierungen gefunden und Entdeckungen gemacht werden.

„Eine wirklich integrale Psychologie würde die gültigen Einsichten vormoderner, moderner und postmoderner Quellen umfassen.“ – Auf diese Eröffnung in Kapitel 1 folgt der Versuch, eine integrale Psychologie mit dem allumfassenden Blick auf die philosophia perennis zu untermauern. Wilber befasst sich mit den Ebenen des Bewusstseins mittels dreier wechselseitig aufeinander bezogener Begriffe: Grundebenen, Grundstrukturen und Grundwellen. Seine Definition dieser Begriffe führt den Leser in ein Bewusstseinsspektrum, das vom vorpersönlichen über den persönlichen zum transpersonalen Zustand reicht. Die von ihm ausgeführte Bewusstseinsbestimmung ist nicht einfach gegeben, sondern verdankt sich der gezielten Suche nach höherer Entwicklung: „…all diese Gipfelerfahrungen, gleich wie tief, sind rein temporäre vorübergehende Zustände. Damit es zu höherer Entwicklung kommt, müssen diese temporären Zustände zu dauerhaften Eigenschaften werden. Zu höherer Entwicklung gehört, zum Teil wenigstens, die Verwandlung veränderter Zustände in dauernde Verwirklichung ... Hier werden die meditativen Zustände zunehmend wichtig.“ (S. 32)

Wilber hebt hervor, dass die gesamte menschliche Entwicklung in einem „Großen Nest des Seins“ eingebettet ist. Diese Aussage bezieht sich auf das große morphogenetische Feld, welches Rupert Sheldrake in seinen wissenschaftlichen Werken so zutreffend beschrieben und nachgewiesen hat. Ausgehend von dieser Perspektive erweitert Ken Wilber seine philosophia perennis zu metaphysischen Postulaten, z.B.: Alles Leben ist koexistentiell evoluierend und entfaltet dabei wechselseitig aufeinander bezogene Potentiale. Einfacher gesagt: Alles Leben ist eine differenzierte Form göttlicher Einheit. Diese phänomenologisch erfahrene Sicht schreibt Wilber der Bestimmung des menschlichen Bewusstseins zu. Es geht ihm dabei weniger darum, dies zu sehen, sondern es zu verwirklichen. Darum hebt er die Notwendigkeit meditativer Praxis hervor; in Wilbers Worten haben „meditative Zustände Zugang zu diesen höheren Bereichen auf eine absichtliche und länge andauernde Weise“. (S. 32)

Kennzeichnungen und Differenzierungen bezüglich der menschlichen Wesensentwicklung sind für Wilber von zentraler Bedeutung. Sein kritisch-analytischer Überblick über die Gedanken seiner Vorläufer ermöglicht es ihm, kohärente Systeme und Skizzen des menschlichen Bewusstseins zu entwerfen. Auf S. 48, Abb. 3, präsentiert er ein integrales Psychogramm als eine Holarchie, wobei er vier Ebenen des Seins (Körper, Geist, Seele und GEIST) unterscheidet und zeigt, wie jede dieser Ebenen von fünf Ausdrucksprozessen (kognitiv, moralisch, zwischenmenschlich, spirituell und affektiv) durchdrungen wird. Obwohl diese Abbildung ganz einfach zu sein scheint, ist sie Ergebnis eines enormen Forschungsaufwandes, zusammengefasst in die Aussagekraft einer Graphik. Dies tritt besonders deutlich in Teil 3 seines Buches hervor, wo er sich in das von ihm vorgeschlageneGrundmuster des vollen Spektrums der Bewusstseinsentwicklung vertieft.

Teil 1 von Integrale Psychologie endet mit einer Erkundung des Steuermanns des menschlichen Bewusstseins, d.h. des Selbst. Wilber bezeichnet das „ICH“ (engl. „I“) als das proximale Selbst, während das „ich“ (engl. „me“) für ihn das distale Selbst ist. In der psychologischen Entwicklung verwandelt sich das „ICH“ einer Ebene in ein „ich“ der nächsten Ebene. Hierbei bleibt Wilbers Konzept des Selbst nicht dualistisch; vielmehr führt er ein drittes Selbst ein, das er als den Absoluten Zeugen, das Wahre Selbst oder das Transzendentale Selbst bezeichnet. Auch hier findet der Leser das in Wilbers integralem Psychologie-Konzept immer wiederkehrende Thema einer Dreigliederung. Letztlich ist das proximale Selbst der beständige Steuermann durch die vielen Grundebenen, Grundstrukturen und Grundwellen in dem „Großen Nest des Seins“.

Unter den Dutzenden von Denkern, die sich in den beiden letzten Jahrhunderten mit Bewusstseinsentwicklung befasst haben und die Ken Wilber mit Dankbarkeit erwähnt, ist auch die Gestalt Rudolf Steiners. Er beschreibt Steiner als einen außergewöhnlichen Pionier (während der „Entstehungsperiode“einer auf das Transpersonale bezogenen Psychologie, die er mit Namen wie Fechner, C.G. Jung, Henry James usw. verbindet) und als den umfassendsten Visionär seiner Zeit auf dem Gebiet von Philosophie und Psychologie. Auf der Tafel 4 b (Seite 228) verzeichnet Wilber Rudolf Steiners Anschauung vom neungliedrigen Menschen, ausgehend vom physischen Leib bis hin zum Geistesmenschen. Allerdings geht er nirgends auf die subtilen Unterscheidungen Steiners bezüglich der jeweiligen Dreigliedrigkeit von Leib, Seele und Geist ein. Ebensowenig zeigt er die evolutionäre Entwicklung dieser Dimensionen des menschlichen Wesens auf. In dem umfangreichen Anmerkungsapparat macht Wilber eine persönliche Bemerkung zu Rudolf Steiner, die es wert ist, in ihrer vollen Länge zitiert zu werden:. „Ich werde oft danach gefragt, was ich von Steiners Schriften halte. Obwohl ich viel Respekt vor seinen Beiträgen habe, die Pioniercharakter haben, finde ich die Einzelheiten seiner Darstellungen nicht besonders nützlich. Ich glaube, dass jüngere konventionelle Forschung bessere und genauere Karten der präpersonalen und personalen Entwicklung bereit gestellt hat, und ich glaube, dass die meditativen Traditionen differenziertere Karten der transzendentalen Entwicklung bieten. Doch kann man angesichts der Menge visionären Materials, das er produziert hat, nur staunen, und seine Gesamtschaut ist so bewegend, wie man es sich nur vorstellen kann.“ (S. 254, Fußnote 11)

Teil 2 von Integrale Psychologie befasst sich mit dem Weg von den vormodernen zu modernen Paradigmen des menschlichen Bewusstseins. Es ist ein Weg, der in religiösen und spirituellen Quellen wurzelt und im wissenschaftlichen Empirismus stagniert, der erklärt, dass Gott tot sei. Wilber beschreibt, dass dieser Weg zur Erfahrung einer nüchternen, desillusionierten Welt führt – einer Welt, in der dasjenige, was einst in der Gesamtheit von Kunst, Dichtung und Wissenschaft verschmolzen war, nun so minutiös auseinander gelegt ist, dass sich der Mensch in seiner fragmentarischen Existenz nurmehr als gespalten und verloren erlebt. Und genau vor diesem Hintergrund unserer aktuellen Zeitsituation plädiert Wilber für einen integralen Zugang zu allen Angelegenheiten des Menschen. Er leitet die von ihm vorgeschlagenene Integrationsskizze mit den Worten ein: „Und so kam es, dass der moderne Westen die erste bedeutende Zivilisation in der Menschheit wurde, die die substantielle Realität des großen Nestes des Seins leugnete. Und in genau diese massive Verleugnung möchten wir versuchen, wieder Bewusstsein, das Innere, das Tiefe, das Spirituelle einzuführen, und uns auf diese Weise behutsam auf eine integrale umfassende Sichtweise hinbewegen.“ (S.79)

Diese Bemerkungen erinnern an Rudolf Steiners während und nach dem Ersten Weltkrieg erhobenen Einwände gegen die westliche Zivilisation. Die Ursachen für diese Tragödie sah er im Abhandenkommen eine Kosmologie mit Tiefendimension und der dadurch verlorenen Gesundheit. Ohne Kosmologie müsse der Mensch zwangsläufig auch Schritt für Schritt das Vertrauen in seine eigene Existenz verlieren; und eine solche Situation würde schließlich zu weit verbreitetem Sinnverlust und allg emeiner Auflösung führen. Ken Wilber befindet sich also in völliger Übereinstimmung mit Steiners prophetischen Voraussagen.

Wenn es trotzdem eine erkennbare Trennungslinie zwischen diesen beiden Denkern gibt, so liegt sie im Bereich der kosmologischen Anschauungen. Steiners entsprechende Darstellungen sind sehr fruchtbar und eigenwillig, während Wilber dahin tendiert, seinen Blick auf eine ausgelesene philosophia perennis zu richten mit besonderer Betonung der östlichen Kosmologie. Es kann auch vermutet werden, dass Rudolf Steiners außergewöhnliche hellseherische Fähigkeit ihm erlaubte, auf einen lebendigen, in Evolution befindlichen Kosmos hinzuschauen, der von geistigen Wesenheiten durchdrungen ist; so reicht sein Blick auf das Spektrum des Bewusstseins von der Spitze bis zum Grund. Ken Wilber wiederum ist Genius im Bereich eines Denkens, das die psychologischen Phänomene im menschlichen Wesen von dessen frühesten Bewusstseinsstufen bis zu seiner potentiellen Bestimmung in einem höheren Bewusstseinszustand erfasst. Dieser letztere besteht für Wilber in einer Kommunion mit dem, was er als Kosmos bezeichnet. Seine Sicht des Bewusstseinsspektrums reicht vom Grund bis zur Spitze.

Auf dem Grund seines Gebäudes entwirft Ken Wilber vier Quadranten (Siehe Abb. 5, S. 80). Es gibt dort keinen expliziten Bezug zu irgendwelchen geistigen Hierarchien. Statt dessen findet man ein Bewusstseinsspektrum, welches den innerlich-individuellen Bereich der Intentionalität, den äußerlich-individuellen Bereich des Verhaltens, den innerlich-kollektiven Bereich des kulturellen Lebens und den äußerlich-kollektiven Bereich des sozialen Lebens umfasst. Jeder Bereich entfaltet sich in je nachdem 7, 9 oder 13 Bewusstseinsstufen (K.W. legt Wert a.d. Variabilität seiner Schemata!). Wilber beschreibt diese Quadranten als Erfahrungsfelder, die grundsätzlich durch Sprache zu verstehen sind. Im oberen linken Quadranten drückt sich die Sprache in der ersten Person als „ICH“ aus, in dem rechten oberen Quadranten in der dritten Person als „ES“, im linken unteren Quadranten in der zweiten Person Plural als „WIR“, und im rechten unteren Quadranten wird dann auf die objektiven Phänomene Bezug genommen als „ES“ (Plural).

„Das bedeutet, dass die vier Quadranten als die ‚Großen Drei‘ von ICH, WIR und ES zusammengefasst werden können. Oder die Ästhetik des ‚Ich‘ , die Moral des ‚Wir‘ und das ‚Es‘ der Wissenschaft. Das Schöne, das Gute und das Wahre...“ (S. 82) Hier leuchten meines Erachtens die ersten Worte des Prologs des Johannesevangeliums durch: „Im Anfang war das Wort...“ Nicht zu übersehen ist auch der Bezug zu den Grundtugenden der platonischen Philosophie.

Wilbers Weltsicht ist in eine philosophia perennis eingebettet, die in einer überzeugenden Weise Universialität atmet; und dennoch hat er ein Auge für die Einzelheiten jeder philosophischen Richtung. Und genau diese Aufmerksamkeit auf das Besondere jeder einzelnen Bewusstseinsfacette unterscheidet Wilbers Forschung von anderen Anhängern des Transpersonalen. Er stützt sich nicht nur auf die Autorität wohlbekannter spiritueller Lehrer der Vergangenheit, sondern er zeigt auch überzeugend die Übereinstimmung zwischen ihnen auf. Diese Fähigkeit des Synthetisierens, Organisierens und Innovierens ist ein hervorragender und überall zu findender Zug bei modernen Denkern. Wilber verfügt über ihn meisterhaft.

Die Lektüre von Kapitel 8 („Die Archäologie des GEISTES“) war für mich eine erheiternde Erfahrung. Wer in der anthroposophischen Denkströmung nach einer spirituell gegründeten Psychologie sucht, stößt oft auf ein Hindernis: den Begriff des „Ego“. Am Anfang des Kapitels bekundet Wilber seine Absicht, die konfusen Auffassungen über das Ego in der zeitgenössischen Literatur zur Klarheit zu bringen. Er tut dies in einer Weise, die völlig mit Rudolf Steiners Sicht des Ego übereinstimmt:

„Die meisten transpersonalen Forscher sagen von den höheren Stufen, sie seien ‚jenseits des Ich‘ oder ‚transegoisch‘, was zu implizieren scheint, dass man das Ich verliert. Aber diese Verwirrung ist fast nur semantischer Art. Wenn man mit Ich eine ausschließliche Identifikation mit dem persönlichen Selbst meint, dann wird diese Ausschließlichkeit zum großen Teil verloren oder in höherer Entwicklung aufgelöst – dieses ‚Ego‘ wird zum größten Teil zerstört (und die höheren Stufen werden korrekt transegoisch genannt). Wenn man mit Ich ein funktionales Selbst meint, das sich auf die konventionelle Welt bezieht, dann wird dieses Ich ganz entschieden behalten (und oft gestärkt). Ebenso, wenn man – wie die Psychoanalyse – der Ansicht ist, dass ein wichtiger Teil des Ich die Fähigkeit zu distanzierter Selbstbeobachtung ist, dann wird dieses Ich mit Sicherheit behalten und fast immer gestärkt). Wenn Enger sagt, dass ‚Meditation Ichstärke fördert‘, dann hat er absolut recht. Auch wenn man mit Ich die Fähigkeit der Psyche zur Integration meint – wie die Ich-Psychologie – , dann wird dieses Ich auch behalten und gestärkt.“ (S. 109)

Auf diese luzide Klärung des Ich-Begriffs folgt ein revolutionärer Ausblick auf verschiedene Pathologien und Therapien. Wilber beginnt damit, auf zahllose Erklärungs-Bände hinzuweisen, die von ihm und anderen, welche die Bedeutung einer integralen Psychologie erkannt hätten, beschrieben werden müßten. Er macht klar, dass es dabei nicht nur um verschiedene Typen, sondern auch um verschiedene Ebenen der Psychopathologie geht. Wird diese Prämisse akzeptiert, dann kann überhaupt erst verstanden werden, was Therapie ist. Wilber fährt fort, seine eigene Ansicht darzustellen, die auch für ihn keineswegs das letzte Wort in dieser Angelegenheit ist. Er stellt fünf Prinzipien für eine erneuerte Psychopathologie und Psychotherapie auf, die am besten mit seinen eigenen Worten wiedergegeben werden:

„Ein Therapeut des ganzen Spektrums arbeitet mit dem Körper, dem Schatten, der Persona, dem Ich, dem existentiellen Selbst, der Seele und dem GEIST, und versucht zu all diesen Bewusstheit zu bringen, so dass sie alle auf der außerordentlichen Rückreise zum Selbst und den GEIST an dem Bewusstsein teilnehmen können, das die ganze Szene erdet und bewegt.

Kurz, ein Therapeut des ganzen Spektrums ist ein Archäologe des Selbst. Aber dieses ist, wie wir gesehen haben, eine Archäologie, die die Zukunft ausgräbt, nicht die Vergangenheit. Diese Tiefen-Archäologie gräbt im Inneren, um das Jenseits zu finden, das Auftauchende, das Neuentstehende, nicht das schon Begrabene... Sie führen zu den Geburten von morgen, nicht zu den Gräbern von gestern.“ (S. 128)

In Kapitel 10 gibt Ken Wilber dem angehenden integralen Psychologen ein inspirierendes Glaubensbekenntnis mit auf den Weg: „Deshalb sollte man nicht nur anders denken, man sollte fleißig praktizieren.“ (S.157) Er meint hier spirituelle Praxis und versichert: „Jede Art von authentischer spiriueller Praxis ist gut.“ (S.157) Diese Praxis bezieht er nicht nur auf den einzelnen allein, sondern auch auf die gesamte postmoderne Kultur. Diese Erfordernis bringt er im Kapitel 12 zum Ausdruck, wenn er die Frage stellt: „Welche sind die Prinzipien, die kulturelle Evolution in einer differenzierten Form rehabilitieren, und so die Menschheit mit dem Rest des Kosmos wiedervereinigen können, und doch auch die Höhen und die Tiefen des sich entfaltenden Bewusstseins erklären können?“

Wilber beantwortet diese Frage selbst in fünf Punkten:

1. Die Dialektik des Fortschritts. Wenn sich das Bewusstsein entwickelt und entfaltet, löst oder klärt jede Stufe bestimmte Probleme der vorangehenden Stufen, aber fügt dann selbst neue und widerspenstige und – manchmal komplexere und schwierigere – eigene hinzu.

2. Die Unterscheidung zwischen Differenzierung und Dissoziation. Differenzierung ist das Vorspiel zur Integration, Dissoziation ist das zur Katastrophe.

3. Der Unterschied zwischen Transzendieren und Verdrängung. Dies ist die freie Wahl: Entweder Transzendieren und Einschließen oder Unterdrücken und Verdrängen.

4. Der Unterschied zwischen natürlicher Hierarchie und pathologischer Hierarchie. Die Degeneration der natürlichen Hierarchie kann zu Machtmissbrauch führen, die an die Stelle von Gemeinschaft tritt. Dominanz ersetzt dann Kommunikation und Unterdrückung Wechselseitigkeit.

5. Höhere Strukturen können von niedrigeren Impulsen besetzt werden. So können zum Beispiel fortgeschrittene Technologien der Rationalität, wenn sie von Stammesdenken und seinen ethnozentrischen Trieben vereinnahmt werden, sich verheerend auswirken.

Ken Wilber appelliert im letzten Kapitel seines Buches an die Sensibilität eines jeden, den integralen Blick auf alle Gegenstände des Bewusstseins, der Spiritualität, der Psychologie und der Therapie zu richten. Er endet mit einem visionären Ausblick auf unsere Gegenwart und Zukunft:

„Evolution in allen Formen hat begonnen, ihrer selbst bewusst zu werden. Evolution, als GEIST-in-Aktion, beginnt auf einer kollektiveren Ebene zu erwachen. Kosmische Evolution bringt jetzt Theorien und Leistungen ihrer eigenen integralen Umarmung hervor. Dieser Eros bewegt sich durch dich und mich und fordert uns auf, einzuschließen, zu diversifizieren, zu achten und zu umfassen. Die Liebe, die die Sonne und die anderen Sterne bewegt, bewegt Theorien wie diese, und sie wird noch viele andere bewegen, wenn Eros das bisher Unverbundene verbindet und die Fragmente einer Welt zusammenzieht, die zu erschöpft ist, auszuhalten.“ (S. 216)

Integrale Psychologie ist ein Elementarbuch für postmoderne Psychologie und zugleich ein Versuch, unsere Kultur angesichts der drohenden Gefahr ihrer Selbstvernichtung wachzurütteln.. Sein Autor ist aufmerksam und kühn genug, Denker über alle Disziplinen hinweg aufzufordern, im Zugang zu ihren jeweiligen Sachgebieten mehr integral zu werden. Wilber hat die Grenzen konventionellen und transpersonalen Denkens erweitert in die unausweichliche Sphäre gemeinschaftlicher Gesinnung. Schon allein deswegen sollte er mit Sorgfalt gelesen und wieder gelesen werden. Er hat uns zum Dialog eingeladen; lassen wir diese Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen.


Ken Wilber, Integrale Psychologie. Geist, Bewusstsein, Psychologie, Therapie, aus dem amerik. Engl. übers. von Peter Brandenburg, Arbor Verlag, Freiamt 2001, kt., 320 S., William River Bento, PhD, arbeitet als Psychotherapeut und Berater verschiedener meist anthroposophischer Initiativen in den USA und in Großbritannien. Er betreibt zugleich seit vielen Jahren astrosophische Studien in der Nachfolge des Begründers der modernen, auf Anthroposophie gündenden Astrosophie, Willi Sucher. Seinen Entwurf einer neuen Psychosophie, für den er kürzlich an der Hamilton University den Doktorgrad erwarb, stellen wir in den nächsten Ausgaben dieser Zeitschrift vor. William River Bento lebt abwechselnd in Longmont, Colorado (USA) und in Stourbridge (England).

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