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Ray Harris Ray Harris is a frequent contributor to this website. He has written articles on 9/11, boomeritis, the Iraq war and Third Way politics. Harris lives in Australia and can be contacted at: [email protected].



„Hoffnung liegt im Aufbau eines progressiven Islams aus sich selbst heraus. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um progressive Kräfte zu unterstützen, wir dürfen ihnen nicht den Rücken zukehren in einem verfehlten Verständnis dessen, was ein progressiver Islam ist."

Die vielen Gesichter
des Islams

Orthodox, gemäßigt und progressiv

Ray Harris

In früheren Artikeln habe ich argumentiert, dass der Islam eine außergewöhnliche Herausforderung für die integrale Gemeinschaft und für fortschrittliche Kräfte im Allgemeinen ist. In der Vergangenheit habe ich mich auf einige besondere Themen konzentriert; die Frage des Islams als einer Religion der Gewalt und die besondere Antwort auf die Kontroverse mit den Karikaturen. Menschen, die mit mir wegen dieser Artikel korrespondierten, haben die Notwendigkeit für einen ausführlicheren Überblick aufgezeigt, der diese Themen in einen Kontext einordnet. Dieser Artikel versucht, das Flechtwerk, das der Islam ist, mit dem besonderen Ziel zu erklären, der integralen Gemeinschaft bei der Entscheidung zu helfen, welche muslimischen Stimmen den orthodoxen Islam, den moderaten Islam und den progressiven Islam repräsentieren.

Indonesien ist die bevölkerungsreichste muslimische Nation auf dem Planeten. Es wird ebenso als eine moderate muslimische Nation angesehen. Lilis Lindawati aus Tangerang, einer Satellitenstadt gerade außerhalb von Jakarta, wagt offensichtlich zu widersprechen. Sie wurde verhaftet, weil sie eine unbegleitete Frau war, die nachts draußen war. Sie wurde in einem Van weggeschafft, während sie auf den Bus wartete, nachdem sie ihre Schicht als Kellnerin beendet hatte. Sie wurde beschuldigt, eine Prostituierte zu sein trotz der Tatsache, dass sie verheiratet war, zwei Kinder hatte und im dritten Monat schwanger war. Was war der Beweis dafür, dass sie eine Prostituierte war? Sie trug zuviel Makeup zur Schau und hatte ‚enge’ Kleidung an. Sie protestierte zum wiederholten Mal, dass sie verheiratet sei, doch die Polizei und der Richter weigerten sich, ihren Ehemann zu kontaktieren, um ihre Aussagen zu überprüfen. Der Richter stellte sogar fest: „Es gibt Puder und Lippenstift in Ihrer Handtasche, das bedeutet, dass Sie lügen, wenn Sie sagen, Sie seien eine Hausfrau.“ Der Bürgermeister verteidigte die Entscheidung und sagte: „Ein gutes Mädchen pflegt nicht mit dieser Art Kleidung auf der Straße zu stehen.“ Der Bürgermeister war zufällig der Bruder des indonesischen Außenministers Hassan Wirayuda. Es war bloß ein Vorzeigeverfahren, das darauf abzielte zu kontrollieren, wie Frauen sich anziehen. Lilis Lindawati war am falschen Platz zur falschen Zeit. Sie wurde drei Tage ins Gefängnis gesperrt. Sechsundzwanzig andere Frauen wurden ebenso für ähnliche ‚Vergehen’ bestraft.

Das ist ein Vorgeschmack auf das neue Indonesien. Drakonische Zensurgesetze liegen dem Parlament vor, die die Ausdrucksfreiheit bei Film, Theater, Literatur, Fotografie und Medien im Allgemeinen an die Kandare legen. Sie werden ebenso das öffentliche Zeigen von Zuneigung unter Bann stellen und werden beeinträchtigen, wie sich Frauen kleiden.

Ja, sagen Sie – doch das sind bloß die Aktionen einiger weniger Konservativer. Ich wünsche das. Wie es sich herausstellt, unterstützen so genannte moderate muslimische Organisationen ebenfalls die neuen Gesetze. Die einzigen Menschen, die sie bekämpfen, ist eine Koalition von Künstlern, Intellektuellen und Feministen; Menschen, die wir als Progressive ansehen könnten.

Der Begriff moderat bedeutet wenig. Er hat nur eine Bedeutung in Relation zu einer Position, die als extrem definiert wurde. Ein Moderater ist bloß jemand, der weniger extrem ist.

Hier sind viele im Westen genarrt worden. Sie schnappen nach dem Begriff moderater Muslim, als ob der zur Debatte stehende ‚Moderate’ an die gleichen Dinge glauben würde, wie es ein moderater Westler macht. Dies ist oft weit weg von der Wahrheit. Viele moderate Muslime sind nach westlichen Standards sehr konservativ. So sehr, dass der Begriff moderat dem von nutzlos nahe steht. Es ist ein westlicher Begriff, der einen geringen Bezug zur Wirklichkeit von islamischer Politik hat.

Das Gewebe des Islam

Sunni, Shia, Deobandi, Bharelvi, Ahhmadiya, Wahhabi, Ismaeli, Ithna Asharia, Alawi, Druze, Bidati, Dawoodi Bhoras, Usuli, Alavi Bhoras, Naqshbandiya, Darvish, Chisti, Zaidis, Kharijites, Khatmiyya, Tijaniyya, etc, etc.

Diese sind die Namen von einigen der vielen islamischen Sekten. Einige sind ultra-orthodox und einige sind moderat, von keiner kann gesagt werden, sie sei progressiv. Wenn wir im Westen jemals den Islam verstehen wollen, müssen wir verstehen, dass es wichtige Unterschiede zwischen den islamischen Sekten und den unterschiedlichen ethnischen Gruppen innerhalb des Islams gibt.

Ich würde lieber die besonderen Namen dieser verschiedenen Gruppen benützen, wenn ich über den Islam diskutiere. Wenn wir über Pakistan diskutieren, müssen wir den Unterschied zwischen den Deobandi und den Bharelvi verstehen. Wenn wir über den Irak diskutieren, müssen wir den Unterschied zwischen den Usali und Alavi Bhoras in der schiitischen Politik verstehen. Wenn wir über Sufismus diskutieren wollen, müssen wir verstehen, dass einige Sufisekten ultra-orthodox sind - es gibt einen gewaltigen Unterschied zwischen den Naqshbandiya im Kaukasus und den Naqshbandiya in den USA - die Naqshbandiya im Kaukasus sind Jihadhis.

Ich verstehe, dass dies die Umstände kompliziert - und deshalb wenden sich Menschen zurück zu Generalisierungen und Vereinfachungen wie etwa ‚moderate’ Muslime. Doch ich befürchte, dass dies wichtig ist, besonders wenn ein vermutet moderater Muslim zum Sprecher für den Islam nach vorne geschoben wird. Er oder sie mag überhaupt nicht eine legitimierte Sprecherpersönlichkeit sein, nur eine Sprecherpersönlichkeit für die Ansichten der Sekte, der er oder sie angehört.

Es gibt keine zentrale Autorität im Islam

Keine Sprecherpersönlichkeit kann im Namen aller Muslime sprechen. Der Islam ist keine homogene Wesenheit. Niemand kann im Namen des ‚wirklichen’ Islam sprechen. Es gibt keinen ‚wirklichen’ Islam.

Der Islam ist in zwei weite Kategorien von Sunniten und Schiiten geteilt. Die Sunniten repräsentieren etwa 75% aller Muslime. Viele ‚moderate’ muslimische Sprecherpersönlichkeiten sind Sunniten. Das Wort Sunni kommt vom arabischen Sunnah, was ‚der Pfad’ oder ‚der Weg’ oder ‚die Tradition’ bedeutet. Die sunnitische Tradition ist das gesammelte Wissen von Juristen und Gelehrten, das von den Quellen abgeleitet ist: dem Koran, der Hadith-Sammlung, fiqh - die Urteile der Juristen und die herkömmlichen Gesetze. Mit der Zeit hat es eine beträchtliche Debatte darüber gegeben, wie der Islam auf eine Vielfalt von neuartigen Situationen angewandt werden soll. Der Koran ist kein Allheilmittel, er ist eine Sammlung von Leitprinzipien.

Die Hadith sind die angeblichen Aussprüche des Propheten und seiner Gefährten. Sie verschaffen weitergehende Aufklärung über den Koran. Doch genau hier treffen wir auf unsere erste Schwierigkeit. Es gibt etliche Sammlungen von Hadith und nicht alle Hadith werden als legitimiert angesehen. Sogar muslimische Gelehrte geben zu, dass einige Hadith fabriziert wurden, um die eine oder die andere Seite im Disput voranzubringen. Deshalb wurde es wichtig, dass eine Form von Übereinstimmung bei den Gelehrten geprägt wurde. Hier geraten wir in unsere zweite Schwierigkeit. Es gibt keine wirkliche Übereinstimmung.

Man sagte einmal, dass einhundert Denkschulen innerhalb der Sunna aufblühten. Solche Mannigfaltigkeit schuf ein politisches Problem, das das Kalifat zu zerreißen drohte. Um das 10. Jahrhundert wurde politischer Druck ausgeübt, und die hundert Schulen wurde auf nur vier heruntergesetzt. Der orthodoxe sunnitische Islam erkennt jetzt nur vier Madhhab an, oder Schulen der Jurisprudenz - Sharia. Sie wurden nach den Juristen benannt, die den Kanon entwickelten: Hanafi, Hanbali, Maliki und Shafi’i. Alle orthodoxen sunnitischen Muslime hängen einer dieser Madhhab an.

Es ist wichtig, das zu verstehen, wenn wir dazu kommen, den Unterschied zwischen einem orthodoxen und einem moderaten Sunniten zu erklären.

Die Schia (Advokaten) entstand nach einem Streit über die Nachfolge. Sie glauben, dass die drei Kalifen nach Mohammed nicht legitim waren. Soweit sie befasst waren, ging die wahre Nachfolge von Mohammed auf seinen Cousin und Schwiegersohn Ali über. Die Autorität im schiitischen Islam kommt dem Imam zu, ursprünglich der direkte erbliche Abkömmling des Propheten. Es gibt zwei schiitische Hauptsekten, die Ismaili (oder die Siebener) und Ithna Asharia (oder die Zwölfer). Die Zwölfer sind die dominierende Sekte, doch es gibt ebenso wichtige Unterteilungen innerhalb dieser beiden Sekten (der Jemen hat eine kleine Gruppe von Fünfern - Zaidis). Diese Gruppen erhalten ihren Namen aus einem Disput über die Nachfolge des achten Imam - die Siebener anerkennen Ismail als den wahren Imam, währenddessen die Zwölfer Ali ibn Musa anerkennen, der schließlich der achte Imam wurde.

Die Zwölfer glauben auch, dass der 13. Imam verborgen ist und dass er als der Mahdi zurückkehren wird, um den Islam als den vorherrschenden Glauben wiedereinzusetzen. Diese Doktrin glaubt an ein islamisches Szenario der letzten Tage. Der Präsident des Iran ist ein Anhänger dieses Glaubens und er scheint geneigt zu sein, diese islamischen ‚Endtage’ schnell herbeizuführen, sehr ähnlich seinen fundamentalistischen christlichen Gegenspielern.

Die Schia glaubt, dass der Imam göttlich geführt sei, und viele glauben an die ‚Unfehlbarkeit’ des Imam. Noch einmal: wenn es viele unterschiedliche Sekten gibt, dann gibt es ebenso viele unterschiedliche göttlich geführte Imame. Wer die irakische Politik verfolgt, wird erkennen, dass es Differenzen zwischen al-Sistani und al-Sadr gibt, und Differenzen wieder mit der Schia in Iran und Irak. Das Schlussurteil bei der Interpretation der Schia liegt beim Repräsentanten des Imam, dem Großen Ayatollah.

Die Umstände werden weiterhin kompliziert durch die Tatsache, dass zahlreiche kleine Sekten sich um charismatische Führer entwickelt haben. Dies ist ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der gegenwärtigen Krise im Islam. Der Mangel an einer zentralen Autorität bedeutet, dass Hunderte von Sekten sich um charismatische Führer entwickelt haben, die gewöhnlich den Ehrentitel Sheikh (Lehrer) haben. Viele dieser Sekten sind Sufi - d.h. sie praktizieren eine Form islamischen Mystizismus, doch wie ich weiter oben ausführte, gibt es eine enorme Variation bei den Sufi-Sekten, bei denen viele ziemlich orthodox sind. Sufismus ist nicht immer der gütige Mystizismus, wie er im Westen porträtiert wird.

Andere Sekten sind Gruppen innerhalb der allgemeinen Kategorie von Sunniten oder Schiiten. Die Wahhabi, die dominierende Sekte in Saudi-Arabien, folgt den Lehren des Hanbali - Gelehrten Sheikh Mohammed Abd al-Wahhab (1703-92). Die Deobandi-Sekte, an erster Stelle in Pakistan, wurde von dem Hanafi-Gelehrten Maulana Mohammed Qasim Nanotyi in der indischen Stadt Deoband 1866 gebildet. Diese beiden Sekten sind ultra-orthodox und bilden das Rückgrat der islamistischen Ideologie. Die Taliban sind Deobandi, die eine Allianz mit Sheikh bin Ladens Wahhabi ‚al Qaeda’-Sekten bildeten.

Koranexegese

Als Gelehrte und Juristen darum rangen, die Lehren des Korans anzuwenden, bemerkten sie, dass einige Passagen anderen widersprachen und dass einige Passagen sich nur um eine besondere Zeit und einen besonderen Ort drehten. Wenn die Ausdrücke orthodox und moderat irgendeine Bedeutung haben, dann ist diese Bedeutung aus der Weise abgeleitet, wie der Koran interpretiert wird.

Irshad Manji legt das Problem unverblümt dar:

„Weit davon entfernt, perfekt zu sein, ist der Koran so tiefverstrickt im Kriegszustand mit sich selbst, dass Muslime, die ‚nach dem Buch leben’ , keine andere Wahl haben, als auszuwählen, was sie betonen und was sie herunterspielen…Das tun eben Liberale ebenso wie Militante, indem sie mit der Spritzpistole die negativen Geräusche des Korans wenigstens in gleicher Weise übersprühen, wie unsere Gegenspieler seine positiven Aussagen tilgen.“

Ein Beispiel zweier widersprüchlicher Passagen ist:

Es soll keinen Zwang in der Religion geben 2:256

Bekämpft diejenigen unter den Völkern des Buches, die nicht an Gott und die Letzten Tage glauben, verbietet nicht, was Gott und die Propheten verboten haben, und bekennt nicht die wahre Religion, bevor sie die Kopfsteuer (jizya) unverzüglich bezahlt haben und sich unterworfen fühlen 9:29

Die erste Passage wird oft von moderaten Muslimen zitiert, um zu beweisen, dass der Islam niemanden zwingt, zum Islam zu konvertieren. Die zweite Passage sagt jedoch deutlich aus, dass die ‚Völker des Buches’, Juden und Christen, bekämpft werden müssen, bis sie sich der Autorität des Propheten unterwerfen. Wenn es keinen Zwang in der Religion gibt, weshalb soll man dann danach streben, eine bestrafende Steuer aufzuerlegen? Wenn es keinen Zwang in der Religion gibt, weshalb werden dann Muslime bestraft, die zu einer anderen Religion konvertieren (die Scharia ruft nach der Todesstrafe für Abtrünnige)?

Die übliche Methode, einen solchen Konflikt zu lösen, geschieht durch einen Prozess des legalistischen Arguments, in dem andere Passagen des Korans und unterstützendes Material aus Hadith und Fiqh verglichen werden, um die wahre Absicht des Korans zu beurteilen. Wo diese Quellen nichts zu sagen haben, greift der Islam üblicherweise auf den Brauch des Ortes zurück. Die Unterschiede zwischen den vier Madhhabs liegen oft an den unterschiedlichen Gewichtungen, die man jeder dieser vier Quellen gibt. Zum Beispiel anerkennt die Shafi’i Madhhab den Brauch der weiblichen Beschneidung, wohingegen die anderen drei es nicht tun.

Gelehrte haben jedoch ebenso zwei führende exegetische Prinzipien akzeptiert. Ich habe bereits eins in ‚Ist der Islam eine Religion des Friedens’ erwähnt. Dies ist das Prinzip der Aufhebung, was besagt, dass die späteren Passagen die früheren Passagen modifizieren. Dies ist reiner gesunder Menschenverstand und anerkennt, dass Mohammed verstand, was er meinte, als er eine frühere Passage benannte und dass er sich selbst nicht widersprechen konnte, wenn er göttlich inspiriert wurde.

Wenn man das Prinzip der Aufhebung benützt, dann wird die frühere Passage von ‚kein Zwang’ durch die spätere Passage modifiziert. Auf diese Weise sollte es verstanden werden, dass es keinen Zwang geben sollte unter der Bedingung, dass das Volk des Buches rechtschaffen ist, wie es durch den Koran definiert wird. Andere Passagen im Koran zeigen deutlich, dass das Edikt der ‚Zwanglosigkeit’ nicht auf Mushrikun (Polytheisten) und Kafirun (Ungläubige) angewendet wird. Als ein Ergebnis einer sauberen Exegese stellt sich in der Tat heraus, dass es einen beträchtlichen Zwang in den Angelegenheiten der Religion geben kann.

Die Definition von orthodox und moderat dreht sich tatsächlich um das zweite exegetische Prinzip, das der möglichen Fälle. Viele Passagen im Koran beschreiben besondere Fälle, die nicht als universelle Prinzipien gelesen werden können. Ein Beispiel dafür ist, dass der Koran für den Propheten Ausnahmen macht.

Prophet, weshalb verbietest du, was Gott für dich gesetzlich gemacht hat, um deinen Frauen einen Gefallen zu tun…? Gott hat dir Absolution für solche Schwüre gegeben. 66:1,2

Eine berühmte Ausnahme ist, dass Mohammed dreizehn Frauen hatte, wohingegen der Koran einen Muslimen normalerweise auf vier beschränkt.

Das Prinzip der möglichen Fälle führt zu beträchtlicher Differenz und Kontroverse bei der Interpretation. Orthodoxe Muslime betrachten das meiste des Korans als universell und festgeschrieben. Die Moderaten glauben, dass viele Passagen von der Zeit, dem Ort und den Umständen abhängen, in denen sie geschrieben wurden.

Es ist fair, wenn man sagt, dass es so etwas wie einen Interpretationskrieg innerhalb des Islams gibt. Orthodoxe Muslime beschuldigen Moderate, den Koran zu gefährden und zu verwässern. Die radikaleren Orthodoxen beschuldigen die Moderaten der Abtrünnigkeit, des Aufhörens, ‚wahre’ Muslime zu sein. Die Moderaten beschuldigen dagegen die radikalen Orthodoxen der Falschdeutung des ‚wahren’ Islams.

Wenn man das Prinzip der möglichen Fälle anwendet, können die beiden widersprüchlichen Passagen wie folgt interpretiert werden. Der Moderate wird behaupten, dass die erste Passage universell sei und deshalb die nachfolgenden möglichen Passagen überstimme. Der Orthodoxe wird behaupten, dass beide Passagen universell seien und wird zu dem Prinzip der Aufhebung zurückkehren.

Wie ich oben erwähnt habe, gibt es jetzt keine zentrale Autorität im Islam und es gibt bisher keine Lösung dieses Deutungskonfliktes. Der durchschnittliche ‚fromme’ Muslim wird sich einfach bei diesen Fragen dem Urteil seines und ihres örtlichen Mullahs oder Imams beugen. Wenn dieser Mullah der Wahhabi oder Deobandi Schule angehört, wird es eine ultra-orthodoxe Lehrmeinung sein. Wenn der Mullah oder Imam der Bharelvi, Bidati oder Ismaeli Sekte angehört, dann werden sie wahrscheinlich moderate Lehrmeinungen erhalten. Es hängt vom Mullah oder Imam ab, und es gibt oft scharfe Differenzen innerhalb der gleichen Sekte. Ein Mullah, der auf der ägyptischen al-Azra-Universität geschult wurde, mag radikaler sein als ein anderer, ein Mullah in einer Stadt mag moderater sein als einer in einer anderen Stadt, eine Moschee mag radikaler sein als eine andere in der gleichen Stadt. Algerien gestattet Polygamie, doch das benachbarte Tunesien nicht. Sie sind kulturell und sprachlich verbunden und beide hängen der Maliki madhhab an, weshalb also der Unterschied? In Algerien hat die öffentliche Meinung den ersten Teil einer Koranpassage bevorzugt, die Polygamie erlaubt, wohingegen die öffentliche Meinung in Tunesien die Ausnahme der Polygamie befürwortet, dass ein Mann alle seine Ehefrauen gleich behandeln muss. Die tunesischen Gelehrten argumentieren, dass ein Mann nicht alle seine Ehefrauen gleich behandeln kann, deshalb war es unmöglich, die Polygamie zu gestatten. Natürlich kann man sich fragen, weshalb der Koran es zu gestatten pflegt, wenn es doch unmöglich ist…

Die algerische Feministin Mareime Héie-Lucas und Mitbegründerin von Frauen unter muslimischem Gesetz sagt das:

Denn wir müssen feststellen, dass der Islam, so wie jede andere Religion, nicht homogen ist. Der Islam bringt viele verschiedene Interpretationen der ihn begründenden Texte vor, von den fortschrittlichsten bis zu den fundamentalistischsten. Das wenigste, was man sagen kann, ist dass in diesem Moment der Geschichte der Fundamentalismus vorherrscht und progressive Interpreten, einschließlich feministische Theologen, sind in Gefahr. Die meisten männlichen Theologen sind bedroht und oft hingerichtet worden in unseren Ländern wegen ihrer Auslegung der Texte, die zu verschiedenen Graden Freiheit für Frauen, für Nicht-Muslime und für Ungläubige gestatten. Bisher sind keine weiblichen Theologen ermordet worden, doch viele stehen unter Bedrohung.

Die islamische Politik kämpft in hohem Maße bei unterschiedlichen Sekten und ihren verbundenen politischen Vereinigungen um die ideologische Kontrolle der muslimischen Massen. Es ist eine übliche rhetorische Taktik zu behaupten, man repräsentiere den ‚wahren’ Islam. Gemäßigte und Radikale beanspruchen beide, den ‚wahren’ Islam zu repräsentieren. Wem glauben wir ? Die Wahhabi und Deobandi haben beträchtliche Mittel in die Kontrolle der Debatte gesteckt. Obschon sie zahlenmäßig kleiner sind, kontrollieren die Deobandi nichtsdestoweniger 60% der pakistanischen Moscheen und die meisten der Islamschulen, der berüchtigten Madrassa. Die Wahhabi haben die finanzielle Unterstützung des saudischen Ölreichtums und haben Millionen für den Bau von Moscheen, Schulen und Wohlfahrtsorganisationen ausgegeben. Saudi/Wahhabi – Geldmittel gingen in den Bau der größten muslimischen Fachoberschule meines Staatsgebiets (Victoria), King Khalid.

Zentrum und Peripherie: Saudi - Arabien und Türkei

Ich bin oft überrascht darüber, wie viele progressive Westler große Abschnitte der Geschichte vergessen haben, besonders im Bezug zum Nahen Osten. Während der 70er ging ein Nebel der Vergesslichkeit hernieder und die Geschichte des Nahen Ostens wurde von einer post-kolonialen Neuschreibung der unpassenden Tatsachen dominiert, besonders der imperialistischen Ambitionen des Islam.

Es muss daran erinnert werden, dass während des Großen Krieges das osmanische Reich an der Seite Deutschlands und des österreichisch-ungarischen Reichs die Mittelmächte formte. Das war eine interessante Wahl, weil die Osmanen sich früher mit Britannien verbündet hatten, um ihre Provinz Ägypten zu beschützen und mit Russland, um ihre Nordgrenzen zu schützen. Es war auch eigenartig, weil die Osmanen früher das meiste des österreichisch-ungarischen Reiches kontrolliert hatten, einschließlich der ungarischen Hauptstadt Budapest (1541 – 1686).

Das osmanische Reich wählte die falsche Seite der Geschichte und zusammen mit dem österreichisch-ungarischen Reich brach es nach dem Krieg zusammen. Das österreichisch-ungarische Reich brach auseinander und wurde Österreich, Ungarn, Tschechoslowakei, Polen und Jugoslawien. Das osmanische Reich wurde ähnlich destabilis Reich wurde ähnlich destabiliziert und wurde zu einer Menge von neuen Ländern, gegründet in früheren osmanischen Provinzen; so wurden die Länder Türkei, Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien und Irak geschaffen. Viele Araber nutzten die Periode der Instabilität, um unabhängige Emirate zu gestalten, wie Kuweit, die Vereinigten Arabischen Emirate, Qatar etc. Natürlich hatten Britannien und Frankreich als Sieger das Sagen. Ist es nicht immer so ? Die Scharia ist diesbezüglich sehr deutlich – die Kriegsbeute geht an den Sieger. Hätten die Mittelmächte gewonnen, dann wäre die Landkarte Europas sehr unterschiedlich, und die Osmanen hätten nicht gezögert, eine Kolonialmacht zu werden.

Die beiden ‚neuen’ Länder von größtem Interesse sind die Türkei und Saudi-Arabien.

Das moderne Saui-Arabien wurde geformt, als die Saud-Familie die osmanische Schwäche nutzte, um Kontrolle über das Land an sich zu reißen, das sie für das eigene hielten, von zwei rivalisierenen Familien, den al-Rashid, die die Provinz Riyadh besetzten, und den al-Hashemi, die die Provinz Mekka kontrollierten.

Saudi-Arabien ist das Heilige Land, das Herzland des Islams. Es ist immer puritanisch in der Einstellung gewesen und hat bei den arabischen Stämmen eine strenge Interpretation aufrechterhalten. Interessanterweise sind diese Menschen direkte Nachkommen der Menschen, die den Islam schufen. Wenn irgend jemand beansprucht, den ‚wahren’ Islam zu repräsentieren, dann sind es gewiss diese Stammesangehörigen.

Mekka ist das Zentrum, geografisch, spirituell und symbolisch. Es bewahrt ein besonderes Recht für sich selbst – Nichtmuslimen zu verbieten, die Stadt zu betreten. Es ist die einzige Stadt, zusammen mit Medina, die Mitglieder von gegnerischem Glauben ausschließen kann. Im Gegensatz dazu dürfen Muslime jede andere Stadt auf dem Globus betreten. Ein Test, mit dem man die Unterscheidung eines progressiven von einem frommen (moderaten oder orthodoxen) Muslimen durchführen kann, ist sie nur zu fragen, ob es Nichtmuslimen gestattet sein sollte, in der Stadt zu leben und sogar ihre eigenen Andachtsplätze zu errichten – ein Recht, das Muslimen in anderen Ländern gewährt wird. Viele Muslime werden von diesem Gedanken angegriffen werden. Dies zeigt natürlich einen hohen Grad von Scheinheiligkeit an, eine Scheinheiligkeit, die viele Westler zu ignorieren oder zu entschuldigen scheinen. Muslime sollten frei sein in der Ausübung ihrer Religion, doch ebenso frei, anderen das gleiche Recht abzustreiten.

Das zeigt ein zentrales Problem innerhalb des Islams auf, eine Spannung zwischen dem geografischen und symbolischen Herzen des Islams und der Peripherie, jenen nicht-arabischen Kulturen, die zum Islam konvertiert sind.

Die Saudis haben versucht, manches an nötigen Reformen durchzuführen, doch es ist immer ein Streit darum. Die Saudis kamen an die Macht mit der Hilfe einer Stammeskoalition, die Ikwhan (Brüder) genannt wird. Die Ikwhan wurden jedoch beunruhigt durch den Wunsch der Saudis, die Technologie der Ungläubigen und moderne Reformen einzuführen, und es gab eine Revolte 1927 mit über eintausend Getöteten. 1979 übernahm der Enkel eines der in der Revolte von 1927 getöteten Ikwhan die Kontrolle der großen Moschee in Mekka. Osama bin Laden ist der ideologische Erbe des Ikwhan Vermächtnisses. Wegen der Proteste der Ultra-Orthodoxen ist das Reformtempo langsam.

Die Türkei zeigt eine unterschiedliche Geschichte. Sie war ursprünglich die Heimat des westlichen römischen Reiches und eine Zeitlang das Zentrum des Christentums. Sie wurde nach einer Reihe von Invasionen islamisiert, besonders durch türkische Stämme, die zum Islam konvertierten. Das osmanische Reich wurde von Kinsik Oghuz Türken geformt.

Anders als die Araber erbten die Türken eine reiche Kultur, die von den Persern und Griechen stammte – viele Einflüsse modifizierten den unfruchtbaren Islam der arabischen Stämme. Das osmanische Reich wuchs zu einem der größten Reiche, die die Region je gesehen hatte. Während des frühen 20. Jahrhunderts verlor es jedoch dramatisch an Macht, Reichtum und Einfluss. Die Intelligenzia und die Reformisten in der Armee wurden unruhig und bildeten das Komitee von Einheit und Fortschritt (CUP) und 1908 übernahmen die ‚Jungen Türken’, wie sie genannt wurden, die Macht. Nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg wurde Mustafa Ataturk der Gründer und Präsident der modernen Türkei. Er folgte dem Beispiel der Jungen Türken und setzte weitreichende Reformen ein, einschließlich der Kontrolle der religiösen Kleriker. Er gründete einen modernen, weltlichen Staat.

Jetzt ist nicht der Platz, um in eine extensive Geschichtsbetrachtung einzusteigen, meine Absicht ist es zu zeigen, dass es eine historische Spannung innerhalb des Islams gibt zwischen einer arabischen Sicht von einem reinen, unbefleckten Islam des Herzlandes und einer reformistischen Tendenz bei den nicht-arabischen Muslimen. Es ist keine Überraschung, dass die drei ‚moderatesten’ muslimischen Nationen sich an der Peripherie befinden. Die Türkei hat beantragt, ein Teil der EU zu werden und Indonesien und Malaysia sind vielleicht am weitesten vom geografischen Zentrum entfernt.

Im Zentrum kontrolliert der Klerus die Regierung, in der Peripherie kontrolliert die Regierung den Klerus.

Viele Progressive lesen die muslimische Politik in Ausdrücken des westlichen Imperialismus. Das ist nicht der entscheidende Faktor. Der Anstieg der orthodoxen Macht kann als eine Reaktion auf die weltliche und nationalistische Neuformung der Türkei angesehen werden. Jahrzehntelang nach dem Ersten Weltkrieg versuchten muslimische Länder wie Ägypten, Irak, Iran, Syrien etc. dem türkischen Beispiel zu folgen und sie haben mit verschiedenen Formen von Nationalismus gespielt. Die Ba’ath Partei im Irak und in Syrien wählte eine Art von totalitärem, sozialistischem Nationalismus aus, der ursprünglich vom Nazismus inspiriert wurde. Nasser in Ägypten versuchte eine Form von pan-arabischem Nationalismus, der zunehmend totalitär wurde. Syrien und Ägypten versuchten sogar einen kurzlebigen Versuch einer Vereinigung, der Vereinigten Arabischen Republik (1958-61).

Viele Progressive meinen, dass die neuerliche Welle von islamistischer Gewalt eine Reaktion auf neuerliche Ereignisse seien. Sie ist es nicht. Die Muslimische Bruderschaft wurde 1929 gegründet als eine Reaktion auf die weltlichen und modernistischen Reformen jener Tage. Sie versuchten 1954, Nasser zu ermorden. Hamas, die neuerdings die Regierung in Palästina übernommen hat, ist ein Ableger der MB [Muslimische Bruderschaft; d.Übs.].

Das Herzland ist immer in Opposition zu den Reformen in der Peripherie gewesen. Die Islamisten sind immer schon ein Teil der politischen Szene gewesen und haben schon immer die weltlichen, nationalistischen und modernistischen Experimente bekämpft.

Und dies ist ein anderer Test zur Unterscheidung dafür, wer progressiv und wer orthodox ist – wo stehen sie in Bezug auf die Frage von Zentrum und Peripherie?

Doch die radikalen sind eine minderheit…

Der gewöhnliche ‚Muslim auf der Straße’ ist genau wie der ‚Mann auf der Straße’, daran interessiert, einen guten Job zu bekommen und Zeit mit seiner oder ihrer Familie zu verbringen. Die ideologischen Schlachten innerhalb des Islams sind weitgehend irrelevant und die Wahrheit ist, dass der durchschnittliche Muslim, genau wie der durchschnittliche christliche Vetter, nicht besonders aufmerksam oder theologisch wachsam ist. Sie wollen einfach nur im Leben vorankommen.

Ein Muslim zu sein, übt jedoch einen einzigartigen Druck auf den durchschnittlichen Muslimen aus. Einer der fünf Pfeiler des Islams ist die Treue zur islamischen Gemeinschaft, der Ummah. Der Koran warnt ihn ständig vor den Übeln der Mushrikun und Kafirun. Der Koran sagt klar aus:

Gläubige, sucht nicht die Freundschaft von den Ungläubigen (Kafirun) und denen, die das Buch vor euch bekommen haben, die eure Religion zu einem Witz und Zeitvertreib gemacht haben. 5:56

Prophet, überziehe die Ungläubigen und Scheinheiligen mit Krieg und behandle sie streng. Die Hölle wird ihre Heimat sein, Übel ihr Schicksal. 66:9

Ein lebenslanges Lehren des Korans und eine kulturelle Überlieferung, die Muslime vor den Gefahren der Ungläubigen warnt, schärft den natürlichen Sinn für Verdacht und Isolation und das natürliche Gefühl der Überlegenheit. Das wird noch verschlimmert durch ein eigenartiges muslimisches Gefühl der Opferrolle. Die islamische Überlieferung enthält die Geschichte vom Betrug der Polytheisten von Mekka am Propheten und seiner Ausweisung nach Medina – der muslimische Kalender beginnt mit dem Exil nach Medina. In Medina verrieten die Juden dann den Propheten und verbündeten sich mit den verhassten Polytheisten von Mekka. Der Verfolgungskomplex wurde zur Zeit der Kreuzzüge verschärft. Der Ausdruck ‚Kreuzfahrer’ ist jetzt eine übliche Herabsetzung, die auf Christen als die Verfolger des Islams bezogen benützt wird. Die Überlieferung der Verfolgung ist natürlich bizarr, wenn man bedenkt, dass der Islam die Polytheisten, Juden und Kreuzfahrer besiegt und weiterhin eine wirkliche Bedrohung für das christliche Europa aufgestellt hat. Sowohl die Türkei als auch Ägypten waren einst wichtige Zentren des Christentums – wer hat denn wen verfolgt ?

Daher fühlt ein durchschnittlicher Muslim eine intensive Treue zu einem Mit-Muslimen höher als jede Loyalität mit einem Nicht-Muslimen. Die neuerlichen Proteste und Unruhen wegen der Karikaturen sind ein gutes Beispiel sowohl für den Verfolgungskomplex als auch das Gefühl der Loyalität mit dem Islam. Während es weitgehend die radikalen Orthodoxen waren, die auf die Straßen gingen, verurteilte eine große Anzahl von moderaten Muslimen ebenfalls die Karikaturen. Indem sie das taten, ermunterten sie die Aufrührer. Sehr wenige moderate Muslime haben sich tatsächlich für die Meinungsfreiheit eingesetzt – die Sprache war weitgehend von einem Angriff auf den Islam; ein Reflex des Verfolgungskomplexes.

Der durchschnittliche Muslim ist gewöhnlich verwirrt und bestürzt durch die schlechte Presse, die der Islam bekommt. Er interpretiert das wahrscheinlich in Ausdrücken der Verfolgungsüberlieferung und versucht, den Islam zu verteidigen. Das führt zu dem, was viele progressive Muslime die simple Leugnung der wirklichen Probleme nennen, denen der Islam entgegensieht. Irgendwie haben die Terrorattacken auf New York, Bali, Madrid, London und buchstäblich Tausende anderer Attacken nichts mit dem Islam zu tun. An ihrer schlimmsten Stelle führt die Verfolgungsüberlieferung zu bizarren Verschwörungstheorien, bei denen gewöhnlich der Mossad der Bösewicht ist, in stillschweigendem Einverständnis von den USA. Als sunnitische Aufständische die al-Askari-Moschee in Samarra angriffen, beschuldigte der iranische Präsident Ahmadinejad Israel und die USA.

Leider bedeutet das, dass die Loyalität eines Muslimen oft zwischen dem Islam und den Gesetzen des Landes, in dem er lebt, hin- und hergerissen wird. Es bedeutet ebenso, dass viele Muslime dazu neigen werden, eher die radikalen Orthodoxen als einen Ungläubigen zu unterstützen, Juden oder Christen – wenn sie zur Wahl gezwungen werden.

Das Leugnen von muslimischer Schuldhaftigkeit nimmt gewöhnlich die Form der Entgegnung an: ‚Aber die Radikalen repräsentieren eine winzige Minderheit.’ Das ist ein unaufrichtiges Argument, weil niemand das Ausmaß an Unterstützung für die orthodoxe Sichtweise kennt. Wir haben jedoch wirklich einige Anhaltspunkte, dass sie viel weiter ausgedehnt ist, als Muslime das zugeben wollen.

1990 hat die Islamistische Befreiungsfront (FIS), eine radikale orthodoxe politische Partei in Algerien die Gemeinderatswahlen mit 54% der Stimmen gewonnen. Sechs Monate später gewannen sie 188 von 231 Sitzen in der ersten Runde der Parlamentswahlen. Die Armee sah einen Sieg der Islamisten als Gefahr an und führte einen Staatsstreich durch.

In den neuerlichen Wahlen in Palästina hat die radikale orthodoxe Partei, Hamas, die Fatah geschlagen und steht im Prozess der Regierungsbildung.

Bei den neuerlichen ägyptischen Wahlen haben sich unabhängige Kandidaten mit den verbotenen Muslimbrüdern zusammengetan und bemerkenswerte Gewinne bei den Gemeinderatswahlen errungen.

In Syrien gibt es ein Wideraufkommen des orthodoxen Glaubens mit einem 30%igen Anwachsen der Moscheebesuche.

In Indonesien ist der Provinz Aceh die Autonomie zuerkannt worden und die Fähigkeit, die Scharia einzuführen.

Sowohl in Indonesien wie auch in Malaysia nehmen orthodoxe politische Parteien an Macht in örtlichen Bereichen zu und versuchen, die Scharia einzuführen. In einem Bezirk von Malaysia wurden drei Männer ins Gefängnis geworfen, weil sie zum Christentum konvertierten, in einem anderen hat der Bürgermeister den Hijab [das Kopftuch;d.Übs.] für Mädchen in örtlichen Schulen verfügt.

In Afghanistan kann die bürgerliche Verfassung die Scharia nicht überstimmen. Das hat zu der neuerlichen Situation geführt, wo ein Mann die Todesstrafe für den Übertritt zum Christentum befürchten muss.

In Bangladesh benützt die orthodoxe JMJB [Jagrata Muslim Janata Bangladesh; die erwachten Massen von Bangladesh;d.Übs.] Einschüchterung, um islamische Werte durchzusetzen.

Und über all dem halten orthodoxe muslimische Regierungen sich an der Macht in Saudi-Arabien, Iran, Jemen, Kuweit, Oman, Qatar, Sudan, Somalia, Niger, Mauretanien und Mali. Afghanistan fiel an die Taliban, die immer noch eine Bedrohung der neuen Regierung bilden. Teile von Pakistan sind unter orthodoxer Kontrolle und die orthodoxen Rechten sind mit Versuchen befasst, Musharraf zu stürzen und die indische Herrschaft in Kashmir zu beenden. Der Krieg im Irak ist in einen Bürgerkrieg abgedriftet, in dem wahrscheinlich die orthodoxen Schiiten die Oberhand gewinnen werden. In fast jedem anderen muslimischen Land stellen die radikalen Orthodoxen ein ernsthaftes Problem dar. Ich habe mit diesem Stück begonnen herauszustellen, dass die ‚moderate’ islamische Nation Indonesien dabei ist, drakonische Zensurgesetze einzuführen, die von orthodoxen Muslimen unterstützt werden.

Die Wahrheit ist, dass die Orthodoxen wesentliche Gewinne machen, sogar in den moderaten muslimischen Nationen Indonesien, Malaysia und Türkei. Wie konnte das passieren, wenn die Orthodoxen solch eine winzige Minderheit wären?

Die Situation ist folgende: die meisten Muslime sind nicht angeschlossen, sogar gleichgültig. Sie wollen nur ein ruhiges Leben wie jeder andere auch. Doch wenn sie zur Wahl gezwungen werden, werden sie oft den orthodoxen Islam wählen vor einer Alternative, von der sie annehmen, dass sie kompromittiert werden durch eine Verbindung mit Ungläubigen. Fatah verlor die Wahlen wegen Korruption und Inkompetenz. Hamas hatte einen guten Ruf mit seiner Gemeindearbeit erreicht. Doch dies verbirgt nicht die Tatsache, dass alle Palästinenser wissen, wofür Hamas steht. Sie wussten genau, für wen sie gestimmt hatten. Das ist das Dilemma, dem die progressiven Kräfte innerhalb des Islams entgegensehen. Die Massen werden für die Islamisten stimmen, wenn sie meinen, ihr Leben wird besser werden. Sie haben keine Loyalität für demokratische Ideale – sie haben eine Loyalität für islamische Ideale.

Das stellt leider tatsächlich eine Bedrohung für nicht-muslimische Nationen mit einer bedeutsamen muslimischen Bevölkerung dar. Da ist nichts Düsteres dabei. Die meisten Menschen haben gespaltene Loyalitäten. Ein gutes Beispiel dafür sind die neuerlichen ‚Rassen’-Unruhen in Sydney. Für einige Jahre hatte es ein Law-and-Order-Problem im Küstenvorort Cronulla gegeben. Die Ortsansässigen hatten sich beschwert, dass Gruppen von libanesischen Jugendlichen Frauen belästigten und sich in einer bedrohlichen Weise verhielten. Die Dinge eskalierten, als drei Strandwächter übel verprügelt wurden. Eine Protestversammlung wurde organisiert, um eine höhere Polizeipräsenz zu erzwingen, um dem Problem Herr zu werden. Diese Versammlung wurde von weißen Rassisten überfallen, die den Zorn der Masse anstachelten, was zu einem Aufruhr und dem Einprügeln auf unschuldige Passanten führte, die ein ‚nahöstliches’ Aussehen hatten. Dies führte zu einer sofortigen Verurteilung durch viele Australier, die sich wegen der Aktionen der Menge schämten. Was folgte, war jedoch schlimmer. Drei Nächte lang bemühte sich die Polizei, die Wagenladungen von libanesischen muslimischen Jugendlichen zu kontrollieren, die zurückschlugen, indem sie jeden ‚Aussie’ verprügelten, der ihnen in den Weg kam und indem sie über 200 Autoscheiben und eine Anzahl Schaufenster zerschlugen.

Es ist interessant, der Debatte zu folgen, die herauskam. Die Australier waren nicht geneigt, irgendeine Entschuldigung für das Verhalten der Menge zu geben. Es wurde einmütig verurteilt. Mitglieder der muslimischen Gemeinschaft haben versucht, Entschuldigungen für die sich ergebenden Racheangriffe zu geben. Die NSW [New South Wales;d.Übs.] Polizei sagte, dass sie eine Anzahl von Verhaftungen von ‚weißen’ Australiern in Verbindung mit dem Aufruhr durchgeführt hätten. Sie sagten, dass Familienmitglieder gekommen seien, um die Schuldigen zu identifizieren. Die Polizei beschwerte sich jedoch auch darüber, dass sie es nicht geschafft habe, ähnliche Verhaftungen in der libanesischen muslimischen Gemeinschaft durchzusetzen und dass sie dort auf Widerstand gestoßen sei. In der zweiten Nacht des Aufruhrs wurde ein Gerücht verbreitet, dass Australier die größte Moschee Sydneys, die Lakemba Moschee angreifen würden. Etwa zweitausend Menschen kamen, um die Moschee zu beschützen. Das Gerücht war falsch. In der nächsten Nacht wurde eine Kirchenhalle niedergebrannt. (Dies ist ein Muster, das überall angetroffen wird, Muslime befürchten Angriffe von ‚Kreuzfahrern’ und um sich selbst zu verteidigen, greifen sie schließlich Christen unverhältnismäßig an – in Indonesien sind über zweihundert Kirchen angegriffen oder zerstört worden und in Nigeria führte die Kontroverse um die Karikaturen zu einem Angriff auf unschuldige Christen, von denen fünfzehn getötet wurden).

Hier sehen wir die Konsequenzen der Verfolgungsüberlieferung, wie sie sich selbst erledigt. Muslime wurden angegriffen, deshalb gab es einen sofortigen Gegenangriff, eine Vergeltung, die sich als schlimmer als der ursprüngliche Aufruhr herausstellte. Als ein Gerücht verbreitet wurde, dass die Moschee angegriffen werden sollte, kamen zweitausend Menschen, um sie zu beschützen. In der nachfolgenden Debatte zeigten viele Australier Reue und Scham, doch viele Muslime schoben die Schuld den ‚rassistischen’ Australiern zu und ignorierten den Rassismus der muslimischen libanesischen Jugendlichen. Dann zog die muslimische Gemeinschaft ein Schutzschild um sich herum und weigerte sich, mit der Polizei zu kooperieren. Dies ist ein Beispiel dafür, wie Muslime Muslime gegen Nicht-Muslime verteidigen, ein Ergebnis des Verfolgungskomplexes und des Konzeptes der Ummah.

Das wirklich Interessante dabei ist, dass Muslime nur 1,5% der australischen Bevölkerung ausmachen, Buddhisten machen 1,8% aus. Als ein Ergebnis der muslimischen Beschwerden gegen die Verfolgung hat die Regierung einen speziellen muslimischen technischen Beirat geschaffen. Es gibt keinen buddhistischen technischen Beirat. Es gibt ebenfalls eine Ausbreitung von muslimischen Organisationen, die beanspruchen, den ‚wirklichen’ Islam zu repräsentieren, mit einer nachfolgenden internen politischen Schlacht um das Gebiet.

Aus dieser kleinen Bevölkerung von Muslimen, deren größte Mehrheit aus durchschnittlichen Bürgern besteht, musste die Polizei eine kleine Anzahl von Radikalen festnehmen. Ein Australier, Jack Thomas, wurde verurteilt, weil er Geldmittel von al-Qaeda empfangen hatte. Er hat freimütig zugegeben, dass er mit al-Qaeda trainiert und bin Laden getroffen habe. Während er dort war, traf er einen anderen Australier, David Hicks, der ebenfalls freimütig zugab, mit al-Qaeda trainiert zu haben. Am Ende des letzten Jahres verhaftete die Polizei eine Gruppe von Muslimen, die mit einem unabhängigen, radikalen ‚Sheikh’, Abu Bakr Benbrika, verbunden waren, der mit den Worten zitiert wurde: ‚Meine Religion toleriert keine andere Religion.’ In meinem früheren Artikel ‚Was soll das ganze Aufheben wegen der Karikaturen’ zitierte ich einen anderen australischen Muslimen, Wassim Doureihi, der sagte: ‚Es gibt keine Möglichkeit einer harmonischen Koexistenz zwischen dem Islam und dem Westen, weil es einen fundamentalen Konflikt gibt. Am Ende muss einer die Oberhand gewinnen.’

All dieses Aufheben von einer religiösen Gemeinschaft, die bloß 1,5% der Gesamtbevölkerung repräsentiert ? Und das soll kein Problem sein ? Tatsache ist, dass Muslime die einzige terroristische Bedrohung in Australien repräsentieren – es gab bisher keine Verhaftungen von christlichen, jüdischen, hinduistischen oder buddhistischen Terroristen (obschon die tamilische Gemeinschaft unter Beobachtung steht wegen möglicher finanzieller Verbindungen zu den tamilischen Tigern).

Ich akzeptiere, dass die Mehrheit der Muslime in Australien Durchschnittsbürger sind. Was nicht richtig verstanden wird, ist dass sie sich aus vielen unterschiedlichen Sekten und ethnischen Gruppen rekrutieren. Das bedeutet, dass es Wahhabi und Deobandi unter ihnen gibt. Abu Bakr Benbrika repräsentiert eine extreme Form von Wahhabismus. Wassim Dourehi vertritt eine Gruppe, die mit den Naqshbandiya verbunden ist und so weiter.

Das Problem für die Polizei ist, dass niemand mit einem Schild herumläuft, das aussagt: ‚Ich bin ein Terrorist.’ Von Natur aus handeln sie verdeckt. Die Überlieferung der Verfolgung und das Konzept der Ummah führt sogar moderate Muslime dazu anzunehmen, dass die gerechtfertigte Untersuchung von radikalen Muslimen ein Angriff auf alle Muslime sei.

Jede Kritik am Islam wird als Angriff auf den Islam selbst angesehen und trifft auf beträchtliche rhetorische Aggression. Diese ‚Defensivhaltung’ führt zu einer Abneigung gegenüber der Selbstkritik. Es gibt ernstliche Probleme innerhalb des Islams, doch viele Moderate werden nicht akzeptieren, dass dies der Fall ist.

Es spielt keine Rolle, wie klein die radikale Minderheit ist, wenn sie in der Lage ist, einen unverhältnismäßigen Betrag an Unruhe zu verursachen. Es ist die Unruhe, die das Problem ist.

Was genau wird vom Westen erwartet, was er gegen diese islamistische Gewalt tun soll ? Vorgeben, dass sie nicht da ist und hoffen, dass sie vorbeigehen wird ?

Geopolitik: globalisierung und kolonialismus

Der islamische Verfolgungskomplex und die kulturelle Verdächtigung von Ungläubigen bedeuten, dass der Islam sehr empfindlich gegen die Einmischung von Seiten der Nicht-Muslime ist. Post-koloniale Schuld führt viele progressive Westler dazu, an dieses Argument zu glauben. Es ist ein sonderbares Argument, besonders wenn man die Geschichte des Islams versteht.

Der Islam war die erste globalisierende Macht. Er war in Afrika vor den Europäern, er war in Indien vor den Briten und er erreichte Indonesien und Malaysia vor den Europäern. Der Islam hatte es fertig gebracht, eine Vielfalt an Kulturen zu bekehren, einschließlich der Mongolen, (oft mit einer beträchtlichen kulturellen Unempfindlichkeit). Die Europäer sind oft bloß den Fußspuren der Muslime gefolgt. Sie hatten letztlich Erfolg, weil die europäische Technologie die muslimsiche Technologie übertraf.

Mir fällt es schwer, über das Schicksal des muslimischen Reiches traurig zu sein. Ich sehe das Christentum und den Islam als zwei Seiten der gleichen Münze. Beide haben ein missionarisches Verlangen danach, die Welt zu ihrem Glauben zu bekehren.

Wenn wir in unserer Ablehnung der Irrtümer des Kolonialismus logisch folgerichtig sein wollen, müssen wir ebenfalls auf den negativen Einfluss der muslimischen kolonialistischen Expansion auf die eingeborenen Kulturen blicken.

  1. Der orthodoxe Islam erkennt die Sklaverei an. Das Sharia-Gesetz ist nicht geändert worden. Im Laufe seiner Geschichte in Afrika hat der Islam von einem ausgedehnten Sklavenhandel profitiert. Die Sklaverei existiert noch heute im muslimischen Nordafrika. Im Gegensatz zu ihren christlichen Gegenspielern haben muslimische Kleriker nicht die Stimme erhoben gegen die Sklaverei. Warum ? Weil der Koran im besonderen die Sklaverei gestattet.
  2. Die kommunale Gewalt in Indien ist ein Ergebnis einer Jahrhunderte andauernden Spannung zwischen der hinduistischen Mehrheit und der muslimischen Minderheit. Nur 20 % (diese Zahl wird diskutiert, und einige meinen, sie sei niedriger) der Inder waren Muslime, sie regierten jedoch Indien weit länger als die Briten. Kaschmir ist immer noch ein Brennpunkt.
  3. Der Islam ist weitgehend verantwortlich für die Dezimierung des Buddhismus in Nordindien, Pakistan und Afghanistan. Die größte damalige buddhistische Universität, Nalanda, wurde vollständig zerstört und die Mönche wurden ermordet.
  4. Der Islam hat ebenso das meiste der persischen Kultur dezimiert, viele Zoroastrier (Parsen) flohen nach Indien.
  5. Die einheimischen Kulturen von Südostasien haben Jahrhunderte von muslimischem Kolonialismus entgegengesehen. Die neuesten Brennpunkte sind Bali mit einer hinduistischen Mehrheit, die zunehmend nervös wird nach einer Anzahl von Bombenanschlägen (und dem Einfluss der neuen Zensurgesetze) und West-Papua. Osttimor, ein Land mit christlicher Mehrheit, erlebt Jahre von bösartiger Unterdrückung.
  6. Islamisten streben die Kontrolle von drei malaiisch sprechenden Provinzen in Thailand an.
  7. Auf dem Balkan bestehen immer noch Spannungen zwischen Christen und Muslimen. Milosevic ist gerade gestorben, doch sein serbischer Nationalismus war bloß eine Ausweitung eines lang andauernden serbischen Widerstands gegen fremde Einflussnahme, einschließlich der osmanischen und der österreichisch-ungarischen Herrschaft. Viele Nationalisten auf dem Balkan haben die muslimische Restbevölkerung als anachronistisch angesehen.

Eine der beunruhigsten Forderungen von orthodoxen Muslimen ist ihr Anspruch auf die Wiederherstellung des islamischen Reiches. Unter dem Sharia-Gesetz gehört noch jedes Land zum Islam, das im Namen des Islams gewonnen wurde. Das gründet auf der Idee, dass das was Allah gibt, nicht von Menschen genommen werden kann. Während viele Muslime das zu Recht als eine erledigte Angelegenheit betrachten, tun das radikale Gruppen nicht. Die Rückkehr Spaniens zum Islam steht auf der Tagesordnung.

Daher ist es interessant zu sehen, dass progressive Westler den Islam als ein Opfer des europäischen Imperialismus ansehen wollen, besonders wenn der orthodoxe Islam ganz genauso imperialistisch ist wie das Christentum.

Natürlich ist es wahr, dass die Westmächte im Nahen Osten eingegriffen haben, oft mit verhängnisvollen Folgen. Ich habe die Dummheit der amerikanischen Nah-Ost-Politik in früheren Artikel erwähnt, besonders in Bezug auf das Disaster im Irak, das sich nun zu einem Bürgerkrieg entwickelt.

Genau hier stoßen wir auf ein komplexes Problem. Der Islam ist nicht gleichförmig. Er ist ein zivilisatorischer Komplex. Das Problem für den Westen ist, dass unterschiedliche Eliten innerhalb des Islams unterschiedliche Sachen vom Westen haben wollen. Sogar Osama bin Laden würde, falls er die Kontrolle über Saudi-Arabien erlangen könnte, westliche Technologie haben wollen. Ja, der Westen hat eingegriffen, jedoch oft auf Bitten und mit der Kooperation von unterschiedlichen Eliten innerhalb des Islams. Ein berühmter Fall ist die Verwicklung der CIA bei der Entmachtung von Irans gewähltem Präsidenten Mossadegh 1953. Die CIA half, indem sie orthodoxe Kleriker finanziell unterstützte, die gegen Mossadeghs säkulare Reformen kämpften. In der iranischen Revolution von Khomeini haben genau jene Kleriker die absolute Macht errungen. In einem interessanten derben Schlag gegen die naive Linke sagt Tariq Ali, selbst ein Linker:

Nützliche Idioten aus der westeuropäischen Linken, die gekommen waren, um an den schicksalhaften Ereignissen teilzunehmen, wurden von der Leidenschaft und der Aufregung hingerissen und begannen, die gleichen Slogans zu singen, um ihre Solidarität zu demonstrieren. Weil sie nicht daran glaubten, nahmen sie an, dass auch die iranischen Massen opportunistisch wären. Die ganze Religion war Schaum; der würde weggeblasen werden von neuen und stärkeren Winden…Es war natürlich nicht so, doch viele wollten, dass es so wäre.

Die iranischen Massen sind nicht opportunistisch gewesen, die westliche Linke war es. Es gibt immer noch Linke, die den Islamismus auf die gleiche opportunistische Weise ansehen. Mir haben Leute gesagt, dass es besser wäre, wenn der Irak von Schia-Fundamentalisten regiert würde, wenn das die Niederlage des amerikanischen Imperialismus bedeutete.

Die herrschenden Familien der arabischen Staaten profitieren enorm vom Öl. Die al-Saud (Saudi-Arabien), al-Sabah (Kuweit), al-Thani (Qatar), al-Said (Oman) und al-Khalifa (Bahrain) – Familien, um nur wenige zu nennen, sind letztlich sehr wohlhabend geworden. Ja, der normale Muslim hat gelitten, doch die internationale Politik kümmert sich nicht um Gerechtigkeit für die Bauern, sondern darum, welche Familie oder welcher Klan den Wohlstand und die Macht kontrolliert. Das Problem ist das Stammessystem. In Ermangelung einer Zentralgewalt im Irak streiten sich die Stämme und Klans nun um die Kontrolle. Unter Saddam profitierten die sunnitischen arabischen Klans, die mit seinem Klan, dem al-Tikrit, verbunden sind, am meisten.

Also, wem soll man zuhören ? Welcher Abteilung der muslimischen Gesellschaft soll eine westliche Macht zuhören ? Welche Eliten sind wahre Repräsentanten der muslimischen Mehrheitsmeinung ? Gibt es eine zusammenhängende Mehrheitsmeinung oder nur ein Kaleidoskop von widerstreitenden Meinungen ? Was passiert, wenn die Mehrheitsmeinung sich als die orthodoxe Sicht favorisierende herausstellt und für die islamistischen Parteien stimmt ?

Was die Progressiven in ihrer kurzsichtigen Betrachtungsweise der Geschichte ebenfalls vergessen, ist dass der kommunistische Block ebenso sehr am Nahen Osten interessiert war. Die westlichen Mächte haben oft eingegriffen, um den kommunistischen Einfluss in den muslimischen Staaten zu blockieren. Der jetzt berühmte Fall ist Afghanistan, wo Britannien und die USA den Mujahidin halfen, die russische Besatzung zu überwinden. Ein anderer Fall ist die US-Unterstützung von Suharto, um den nach links neigenden Sukarno in Indonesien zu stürzen. Doch die Frage, die die Progressiven beantworten müssen, ist ob es besser gewesen wäre, wenn es dem kommunistischen Block gestattet worden wäre zu dominieren ? Der Kommunismus war für den Tod von mehreren zehn Millionen verantwortlich; Stalin, Mao, Pol Pot (Saddam Hussein hat Stalin sehr bewundert). Der Kommunismus war ein Hauptverletzer der Menschenrechte. China hat immer noch eine erschreckende Bilanz. Es wurde gesagt, dass die USA rechte Diktaturen gestützt hat – und ich vermute, dass die kommunistischen Mächte keine linken Diktaturen unterstützt und die gleichen hinterlistigen Mittel angewandt haben. Was wäre einem lieber: eine kommunistische Vorherrschaft oder eine westliche ? Wäre es besser gewesen, wenn der Kommunismus den Kalten Krieg gewonnen hätte ?

Die Islamisten hatten eine Wahl getroffen. Die kommunistischen Ungläubigen waren letztlich der größere Feind, kommunistische Staaten hatten keine Skrupel beim Verbieten von Religion, die westlichen Ungläubigen gestatteten wenigstens den Muslimen, ihre Religion zu praktizieren. Deshalb nahmen die Mujahidin natürlich die westliche Hilfe an, um die russische Besatzung zu überwinden. Der Fehler des Westens war anzunehmen, dass die Mujahidin sich dann nicht gegen sie wenden würden, genau wie die Kleriker im Iran sich gegen sie gewandt haben. Bin Laden glaubt, dass die Mujahidin den Zusammenbruch des sowjetischen Reiches verursacht haben, und er hofft, dass er das gleiche mit dem Westen machen kann. Und viele amerikanischen Analysten loben die Unterstützung der Mujahidin, weil sie half, den Zusammenbruch der Sowjetunion zu verursachen.

Doch das ist die Natur des ‚großen Spiels’, ein Spiel, dem sich die muslimischen Mächte selbst lustvoll hingegeben haben. Die reichen Ölfamilien der arabischen Halbinsel haben freudig die westliche Protektion gegen die kommunistische Bedrohung gesucht.

Ich akzeptiere nicht die seichte Annahme, dass dies ein Zusammenstoß von zwei ‚getrennten’ Zivilisationen sei. Auf vielerlei Weisen sind sie bloß zwei Seiten der gleichen Münze – Vettern. Sowohl der Islam als auch das Christentum sind Nachkömmlinge des Judentums, jede erhebt einen ausschließenden Anspruch auf die endgültige prophetische Autorität: Jesus oder Mohammed. Beide wurden stark von der griechischen Philosophie beeinflusst, besonders von Plato und Aristoteles. Die islamische Zivilisation hatte einen enormen Einfluss auf Europa, besonders in der Zeit, als sie Spanien und Sizilien kontrollierte – sogar Shakespeare übernahm einen Mohren, Othello, als einen seiner Hauptcharaktere.

Der Reihe nach hat jetzt der Westen einen mächtigen Einfluss auf den Islam. Beide Kulturen sind immer verbunden gewesen. Der Islam strebte immer danach, das Christentum zu übernehmen und zu ersetzen als einen Teil seiner Überlieferung, und das Christentum hat den Islam immer als seinen großen Rivalen angesehen, der er auch wirklich war.

Globalisierung ist unvermeidlich. Wenn es nicht das christliche Europa gewesen wäre, das den letzten Kontinent, die Amerikas, entdeckt hätte, dann hätte das leicht der Islam sein können. Das ist ein weiterer Punkt für die Entscheidung, wer progressiv und wer konservativ ist. Progressive Muslime sind immer Synkretisten gewesen, offen für andere Kulturen. Die Orthodoxen sind immer Isolationisten und Anhänger einer Vorherrschaft in ihrer Einstellung gewesen. Die Orthodoxen werden immer gegen jede Art von Einlassung mit Nicht-Muslimen sein.

Nach der spanischen Wiedereroberung sagte der marokkanische Maliki Jurist, al-Wansharisi, dass es unmöglich für einen Muslimen sei, unter christlicher Herrschaft zu leben, sogar dann nicht, wenn die Herrschaft wohlwollend sei. Es war deshalb obligatorisch für alle Muslime, Spanien zu verlassen.

Diese isolationistische Haltung ist immer noch sehr lebendig.

der schlüssel zur reform; madhhab gegen ijtihad

Das Wort ijtihad ist von derselben Wurzel wie jihad (JHD) abgeleitet. Es bedeutet unabhängigen intellektuellen Streit. Es hat eine feste Tradition mit dem Islam. Ein Muslim ist bestimmt dazu, den Koran zu befragen und zu kämpfen, um ihn auf die wirkliche Welt anzuwenden. Es ist die Form einer offenen intellektuellen Untersuchung.

Das Problem entstand, als die hundert Schulen verbannt wurden, da sagten die Juristen ebenso, dass ‚die Tore des ijtihad geschlossen waren’. Das war der Beginn der Orthodoxie. Seit jener Zeit hat sich die Mehrheit sowohl der sunnitischen wie auch der schiitischen Muslime zu der orthodoxen Sichtweise bekannt. Im Fall der Schia wird das ausgedrückt als Gehorsam gegenüber dem Ayatollah ihrer Sekte. Im Fall der Sunniten ist es der Gehorsam gegenüber den Lehren von einer der vier Madhhab. Viele der so genannten moderaten Muslime sind in dieser Hinsicht tatsächlich orthodox. Ihr Gemäßigtsein dehnt sich bloß bis dahin aus, dass sie ihren Glauben lieber als eine Privatsache betrachten, als ihn zu einer Ursache für politisches Handeln zu machen.

Die Rufe nach Reformen des Islam beziehen im wesentlichen die Wiederherstellung der Rolle des Ijtihad ein und die Schwächung der Macht der Kleriker und Gelehrten, die die Madhhab aufrechterhalten. Jene Imams und Mullahs in der Machtposition haben jedoch nicht das Verlangen danach, ihre Macht aufzugeben, und deshalb werden die Progressiven, die nach Reformen rufen, oft verfolgt. Viele reformistische Intellektuelle und Schriftsteller sehen der Missbilligung von seiten orthodoxer Kleriker entgegen, gegen einige wurde sogar eine ‚Todes’-Fatwa erlassen. Es spielt keine Rolle, ob sie selbst nicht zu der Sekte des Klerikers gehören. Die Fatwa ist eine Anweisung an die Anhänger des Klerikers. Das ist wirklich ein wichtiger Punkt. Der Westen hat das Konzept der Gerichtsbarkeit – ein Übertreter kann nur von einer geeigneten Autorität angeklagt und bestraft werden. Im Fall eines religiösen Vergehens ist die richtige Autorität das Glaubensbekenntnis des Übertreters. Es wäre absurd für die katholische Kirche, einen Anglikaner eines religiösen Vergehens zu beschuldigen. Im Islam gibt es eine solche Beschränkung nicht. Daher konnte der Ayatollah Khomenei eine Fatwa gegen Salman Rushdie erlassen, obschon Salman Rushdie nicht als Schiit geboren wurde und obwohl er auf den Islam verzichtet hat. Deshalb könnte ein Reformer in der Türkei oder in Ägypten einer Fatwa von einem Kleriker in Afghanistan und einem Mordversuch von einem der Anhänger des Klerikers in Ägypten entgegensehen.

Die Situation kann ziemlich absurd werden, wenn rivalisierende Mullahs Fatwas gegenüber den jeweiligen Gruppen erlassen.

Trotz der ständigen Bedrohung durch Verfolgung gibt es nichtsdestoweniger eine lebendige Debatte innerhalb der Progressiven und Reformer. Vieles davon findet in westlichen Ländern statt, wo die Meinungsfreiheit geschützt ist (deshalb ist auch die Verteidigung der Redefreiheit so wichtig). Da gibt es zum Beispiel eine anwachsende Bewegung dafür, dass Frauen in Moscheen predigen dürfen, besonders in den USA und Kanada. Diese Bewegung hat ihren Ursprung innerhalb der südafrikanischen Muslime. Doch Reformer sehen in der Mehrzahl der muslimischen Länder Schwierigkeiten entgegen. In einem in der Wochenzeitschrift al-Ahram veröffentlichen Artikel sagte Margot Badran von dem Prinz Alwaleed Bin Talal Zentrum für muslimisch-christliche Verständigung an der Georgetown Universität:

In muslimischen Minderheitsgemeinschaften, besonders doch nicht nur im Westen, sind neuerdings Bewegungen auf neue rituelle Praktiken zu sehr deutlich zu erkennen. In diesen Gemeinschaften hat die Teilnahme an Aktivitäten innerhalb der Moschee – besonders Gemeindegottesdienste – eine Intensität an Bedeutung und sozialer Wichtigkeit, die unterschiedlich ist zu der, die in muslimischen Mehrheitsgesellschaften angetroffen wird. In Kontexten der Minderheit wird die individuelle und kollektive muslimische Identität innerhalb der Moschee ausgedrückt und wiederbestätigt. Wenn sie im religiösen Raum zu Ungleichen gemacht werden, brandmarkt sie das als zweitklassige Muslime. In muslimischen Mehrheitsgesellschaften herrscht die muslimische Identität im Ganzen vor. Während sie Teile der religiösen Mehrheit sind, haben Frauen jedoch eine größere Gleichberechtigung im weltlichen Raum errungen als im religiösen Raum. Muslimische Frauen empfinden sich selbst gleichberechtigt in der größeren nationalen weltlichen Gesellschaft und nicht gleichberechtigt in ihrem eigenen kommunalen Raum.

Im gleichen Artikel sagt sie, dass feministische Ijtihads begonnen haben, einen neuen Islam zu formulieren.

Seit den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts haben Frauen begonnen, Teile einer neuen interpretativen Gemeinschaft zu werden, indem sie zwingende Tafsir (Analysen) und Abhandlungen über Geschlechterprobleme verfassen. Während neue weibliche Exegeten in der globalen Umma einen beträchtlichen Respekt erworben haben, sind sie, was nicht überraschend ist, diskreditiert und verleumdet worden. Während jedoch die neue Botin und ihre Autorität angegriffen werden, wird die neue geschlechter-sensible Auslegung selbst zu einer Autorität. Mittlerweile wird es zunehmend offensichtlich, dass es schwierig ist, islamische Bemerkungen über Gleichberechtigung und Gerechtigkeit mit (weltlichem) Patriarchat in Einklang zu bringen, das immer noch von konventionellen männlichen religiösen Autoritäten unterstützt wird. Die neuen islamischen feministischen Theoretikerinnen und Interpretinnen sind unter anderem: Asma Barlas (Pakistan), Riffat Hassan (Pakistan), Amina Wadud (Afroamerikanerin), Ziba Mir-Hosseini (Iran), Qudsiyya Mirza (Iran) und Aziza al-Hibri (Libanon), um nur eine wenige zu nennen.

Nun pflege ich zu argumentieren, dass viele muslimische Progressive einer zusätzlichen Barriere entgegensehen, indem sie durch progressive Westler an den Rand gedrängt werden, die missverständlich an die muslimische Verfolgungsüberlieferung glauben. Diese Verfolgungsüberlieferung passt zufällig gerade ziemlich sauber in das westliche post-koloniale Schuldsyndrom. Das bedeutet, dass progressive Westler eher geneigt sind, einer moderaten oder orthodoxen Beschwerde über westliche Ungerechtigkeit zuzuhören, weil sie zu dem Vorurteil der westlichen Schuld passt. Ja, wir sind Schufte und ihr habt Recht, es ist alles unser Fehler.

Im Kontrast dazu neigt der progressive Muslim dazu, der Verfolgungsüberlieferung Beachtung zu schenken und stattdessen auf die muslimische Schuldhaftigkeit hinzuweisen, indem er Muslime drängt, aufzuhören die Opferrolle zu spielen und mit dem Reformprozess weiterzumachen. Die kanadische muslimische Lesbierin Irshad Manji sagt es unverblümt:

Es liegt an uns im Westen, reaktionäre Anklagen gegen die Informanten des Islams fallen zu lassen und den Angriff für einen Wechsel anzuführen.

Um in der Lage zu sein, diesen Reformprozess zu unterstützen, ist es entscheidend für progressive Westler, den Unterschied zwischen den Madhhabi und den Ijtihadi zu erkennen, zwischen den reaktionären Gemäßigten und den wahren Progressiven. Dies gilt auch für die integrale Gemeinschaft. Ich war bestürzt darüber, eine Kritik von jemandem zu bekommen, der argumentierte, ich sollte den Schriften von Karen Armstrong Beachtung schenken, die nach seiner Meinung eine ‚gelbe’ Denkerin sei. Huh ? Sie sehen, dass dies das Problem ist, dem wir gegenüberstehen. Leute kratzen nur die Oberfläche dieses Themas an und können einfach nicht einen ernsthaften Schriftsteller von einem Populisten unterscheiden. Karen Armstrong wird von vielen als ein Leichtgewicht und eine Apologetin betrachtet. Sie sollte nicht ernst genommen werden. Sie ist eine Schriftstellerin, die man als Anfänger lesen sollte. Sie ist sicherlich keine ‚gelbe’ Denkerin. Tatsächlich verrät ihre Antwort auf die Kontroverse um die Karikaturen eine klassische ‚grüne’ relativistische Position.

Wie können wir hoffen, progressiven Muslimen beizustehen, wenn wir Populisten auf den Status des zweiten Rangs emporheben ?

Irshad Manji hat ebenso einen Mangel an Unterscheidungsfähigkeit und Grundverständnis bei westlichen Progressiven kommentiert.

Am gleichen Nachmittag gaben Anti-Kriegs-Organisatoren in Washington DC die Bühne an einen muslimischen Kleriker, der im Oktober 2001 der Meinung war, dass “die Zionisten in Hollywood, die Zionisten in New York, die Zionisten in DC” gegen die Muslime ein schändliches Spiel treiben. Wenn die USA ihre Bündnisse neu betrachten sollten, dann sollten das progressive Westler ebenso tun. Doch man wird nicht wissen, wie geschmacklos manche Beziehungen sind, bis man es wagt, den Moment kaputt zu machen und zu fragen.

Marieme Hélie-Lucas hat gefragt:

Wo ist die linke Bewegung ? Wo sind die progressiven Kräfte ? Sie sind von innen aufgefressen worden durch Zweifel und Unschlüssigkeit, genauer gesagt wegen der Befürchtung, des Rassismus bezichtigt zu werden, wegen der kolonialen Vergangenheit, wegen der aktuellen Diskriminierungen von Migranten aus muslimischen Ländern und Gemeinschaften. Die Linke hat ihre Rolle und Pflichten aufgegeben. Ihr fehlt politische Klarheit im Hinblick auf die Unterscheidung von ‚Muslimen’, ‚Migranten’, ‚Fundamentalisten’, damit dient sie unabsichtlich den Interessen der beiden extremen Rechten der Gegenwart (die beiden ‚Rechten’ sind die europäischen Rassisten und die orthodoxen Muslime). Sie hat keine eigene Analyse anzubieten.

Ebenso:

Die europäische Linke hat erbärmlich versagt bei einer Stellungnahme zur Zeit der Rushdie-Affäre – und europäischen Regierungen mangelt es an politischer Klarsicht in Hinsicht auf die politische Natur des Fundamentalismus, besonders Dänemark, das Jahrzehnte lang Mörder beherbergte, Mitglieder von FIS, AIS, GIA etc…[algerische Heilsfront, islamistische Heilsarmee, bewaffnete islamistische Gruppierung in Algerien;d.Übs.], die sich dort über einen sicheren Hafen freuen konnten, von dem aus sie unter anderen Verbrechen Morde und Bombenattentate gegen das Volk in Algerien organisieren und finanzieren konnten. Was jetzt auf ihrem Gebiet passiert, ist nur die Konsequenz langer Jahre der politischen Inkonsequenz.

Ich meine, dass viele Menschen bloß eingeschüchtert sind. Sie versuchen es mit der Vogel-Strauß-Politik und verstecken ihre Köpfe im Sand. Doch das ist ein Problem, das nicht vorbeigehen wird. Wir sehen Jahrzehnten von Kampf entgegen. Dies ist nicht die Zeit, höflich zu sein. Das ist die Zeit, von Muslimen zu fordern und sie zu fragen, wo sie stehen. Dies ist die Zeit, die Spreu vom Weizen zu trennen und die muslimischen Sprecherpersönlichkeiten zu fragen, wen sie repräsentieren.

Dies ist nicht die Zeit, um als Assistenten der Verfolgungsüberlieferung, als ein Chor der Apologeten und Entschuldiger zu handeln.

Es ist an der Zeit, dass westliche Progressive der internen Debatte im Islam Beachtung schenken und den Stimmen zur Seite stehen, die für eine echte Reform argumentieren.

der hijab

Eines der besten Beispiele für die progressive Verwirrung ist das Thema des Hijab, der traditionellen muslimischen Kopfbedeckung. Dieses Thema hat eine interessante Verschmelzung von westlichen Werten und muslimischen Werten offengelegt. Es verschafft ein perfektes Beispiel dafür, wie progressive Westler progressive Muslime verraten und stattdessen konservative Muslime unterstützen.

Darum geht es wirklich: Progressive muslimische Frauen tragen nicht den Hijab. So einfach ist das. Tatsächlich haben sie Jahrzehnte gegen die patriarchalen Regeln gekämpft, die den Hijab für Frauen vorschreiben. Wenn eine muslimische Frau den Hijab trägt, dann signalisiert sie entweder eine oder beide dieser Sachen: ihre Akzeptanz der Orthodoxie und/oder ihre Loyalität zum Islam als einem Opfer des westlichen kulturellen Imperialismus. Es ist diese letztere rhetorische Taktik, die die Sympathie der progressiven Westler auf sich zieht, besonders derer, die Bemerkungen von kultureller Sensibilität wertschätzen.

Es war interessant, die Debatte zu verfolgen über den Vorschlag der französischen Regierung, den Hijab aus den Schulen zu verbannen. Irgendwie kam die Debatte darauf, das Recht einer muslimischen Frau auf das Tragen des Hijab zu schützen. Das scheint fair zu sein – doch nichts ist jemals so einfach, wie es zu sein scheint. Das französische Gesetz kam teilweise als Antwort auf den Druck der Bedenken von Seiten muslimischer Feministinnen wegen des zunehmenden Einflusses der Orthodoxie. Muslimische Schulmädchen hatten berichtet, dass sie gedrängt wurden, konservative Kleidung zu tragen, einschließlich des Hijab. Marieme-Hélie-Lucas beschreibt die Situation wie folgt:

In Frankreich wurde erst nach der Machtübernahme des fundamentalistischen Regimes in Iran das, was später die ‚islamische Kleidung’ genannt wurde, importiert und eingeführt. Ganz interessant, es ist nicht nur in Frankreich, sondern ebenfalls zur gleichen Zeit in Nordafrika, dass diese brandneue ‚islamische Kleidug’ eingeführt wurde, wo sie absolut nicht traditionell ist. Diese ‚islamische Kleidung’ hat nichts zu tun sowohl mit den verschiedenen traditionellen Frauenkleidern in Nordafrika noch mit der kulturellen Anpassung, die die Vormütter [als Gegenstück zu Vorväter;d.Übs] bei ihrer Ankunft in Frankreich machten, um ihre neue Identität als arbeitende Frauen zu bestätigen.

Es wurde klarer und klarer mit den Jahren, dass diese neue Verschleierung die Lanzenspitze des Krieges um politische Macht war, den die Fundamentalisten auch in Europa vom Zaun brachen – wieder einmal indem sie die Körper der Frauen benützten. Jungen wurden ermuntert, für sich selbst die Integration in die französischen Sitten zu suchen, während Mädchen in den meisten Fällen gezwungen wurden, die Sitten und Werte der ‚Tradition und Religion’ zu repräsentieren – d.h. wie es von den Fundamentalisten interpretiert wird – so leben sie einen schmerzhaften und destabilisierenden Widerspruch zwischen persönlicher Emanzipation und beschützender kommunaler Identität, ein Widerspruch, der ihre Vormütter verschonte.

Für die Orthodoxen ging es nicht um Menschenrechte oder die Wahlfreiheit. Es war eine Sache von religösen und kulturellen Rechten – das Recht, die Tradition seinen Mitgliedern aufzuerlegen, ohne Einmischung von anderen, besonders von Ungläubigen. Die Wahrheit ist, dass muslimischen Mädchen oft verweigert wurde auszuwählen, ob sie den Hijab nicht tragen wollten – sie sind von ihren Eltern und zunehmendem Druck der Gemeinschaft gezwungen worden. Es ist auch wichtig zu verstehen, dass diese Muslime, die gegen die französischen Vorschläge protestierten, nicht die Absicht hatten, gegen jene muslimische Länder zu protestieren, die den Hijab vorschreiben. Nein, das ging um das Recht, den Hijab vorzuschreiben, nicht um die Freiheit zu wählen.

Wie bizarr das doch ist, dass progressive Westler konservativen Muslimen halfen und sie bestärkten in ihrer Kampagne, muslimische Frauen zu zwingen, sich anzupassen. Wieder hat Marieme Hélie-Lucas das zu sagen:

Wieder einmal werden Menschenrechtsorganisationen konkret, wenn nicht sogar mit Absicht helfen, dass faschistische muslimische Kräfte an Macht gewinnen, und sie werden wieder einmal nach der Schlacht kommen, um unsere Menschenrechte zu verteidigen, wenn diese von den Kräften gefährdet werden, denen sie gerade helfen. Was für eine traurige Unvereinbarkeit…

Und schließlich:

Unter den Frauen, die in dieser Sache öffentlich wurden, gibt es Schriftstellerinnen, Filmemacherinnen und Geschäftsfrauen. Prominente ausgewiesene Feministinnen aus Algerien wie Zazi Sadou haben den gleichen Standpunkt vertreten – sie wissen aus erster Hand, was es bedeutet, dieses politische Banner durchzusetzen, das die Verschleierung tatsächlich für die Köpfe der Frauen bedeutet. Sie finden es erschreckend, dass das wofür Frauen in Algerien ihr Leben riskierten, z.B. Säkularismus und Frauenrechte, in Frankreich sich wieder einmal abspielen könnte.

Eine der noch bizarreren Verteidigungen des Hijab verwickelt den Feminismus dazu, irgendwie die konservative Kleidung zu unterstützen. Der Westen macht Frauen zu Objekten und verwandelt sie in Sexobjekte. Der Hijab wird ein feministischer Protest gegen diese Objektifizierung, indem er den Körper vor Blicken schützt. Ich war sehr überrascht, als ich hörte, dass westliche Feministinnen dieses Argument glauben. Das ist eine komplette Verdrehung. Frauen ist bestimmt, frei zu entscheiden, zu tragen, was immer sie möchten, ohne zu Objekten gemacht zu werden, sie sollten in der Lage sein, kurze Röcke zu tragen, wenn sie es so wollen. Was ist das für eine obszöne Verdrehung anzudeuten, dass Frauen sich vom Kopf bis zum Zeh bekleiden und ihr Haar bedecken müssen, um sich vor männlichem Gaffen frei zu fühlen.

Doch das ist die Art Kompromiss, die wir von so genannten westlichen Progressiven sehen, die die progressive Agenda aufgeben, um orthodoxe Muslime in dem verfehlten Glauben zu beruhigen, sie seien tolerant gegenüber kultureller Unterschiedlichkeit. Und hier ist ein weiterer Schlüssel zur Unterscheidung von Progressiven und Moderaten – die Moderaten geben Entschuldigungen für den Hijab; die Progressiven wollen ihn loswerden und sie tragen ihn gewiss auch nicht, es sei denn, sie wurden dazu gezwungen.

welche chance hat die demokratie ?

Der Historiker Bernard Lewis beschreibt, wie der muslimische Gelehrte Sheikh Rifa’a Rafi’ al-Tahtawi 1826 nach Frankreich reiste, nach der kurzzeitigen Eroberung Ägyptens durch Napoleon. Der Sheikh beschreibt, wie er sich mit dem Konzept von ‚Freiheit’ abmüht. Im Arabischen ist das nächste Konzept bloß, kein Sklave zu sein. Nach einiger Zeit erkannte er, dass das was die Westler als Freiheit auffassen, näher an der islamischen Idee der ‚Gerechtigkeit’ ist. Für einen Muslimen ist Freiheit kein wichtiges Konzept. Es ist wichtiger, dass man gerecht behandelt wird.

In meinem Artikel über die Kontroverse über die Karikaturen sprach ich über Demokratie, die auf bürgerlichen Tugenden gegründet ist. Für eine im Nahen Osten arbeitende Demokratie muss es die gleiche Art des Konzepts der bürgerlichen Tugenden geben, wie es im Westen vorkommt. Dies ist leider nicht der Fall.

Es ist nicht nur so, dass der Islam kein Wort für Freiheit hat, er hat ebenso kein Wort für Bürger. Die Idee des Bürgers entstand im antiken Griechenland und wurde in römischer Zeit weiter entwickelt. Der Bürger war dazu bestimmt, gewisse Rechte und Pflichten zu haben und bürgerliche Tugenden darzustellen. Das nächstliegende Wort im Arabischen ist muwatin, was Landsmann bedeutet. Tatsächlich hat die arabische Welt nicht die gleiche Idee gehabt wie das griechische Konzept der Polis.

Der Islam hat nämlich eine Ursache geschaffen, auf der sich eine grundverschiedene Ansammlung von Stammesgruppen vereinigen konnten. Es ist eine Vision, in der Religion, Regierung und Gesellschaft alle dem Koran unterworfen sind. Es gibt keine Trennung von Kirche und Staat, keine Trennung des legislativen Armes vom judikativen Arm und keine Trennung von exekutiver und legislativer Gewalt. Es gibt ebenfalls keine weltliche Polis, die von der weiteren religiösen Gemeinschaft, der Ummah, getrennt wäre. Mit-Muslime sind Landsleute (und Ungläubige sind das natürlich nicht).

Wo der Westen bürgerliche Tugenden hat, hat der Islam religiöse Tugenden. Man ist kein guter Bürger, man ist ein guter Muslim.

Das bedeutet, dass es schwierig für einen Muslimen ist, einer abstrakten ‚bürgerlichen’ Autorität zu gehorchen, besonders einer von einer religiösen Autorität getrennten bürgerlichen Autorität. Es gibt eine Abkoppelung, einen Sinn, dass Verbundenheit mit einer bürgerlichen Autorität zu erklären, wie etwa einem Nationalstaat, heißt, die Ummah zu verraten.

Es bedeutet auch, dass viele Muslime Schwierigkeiten haben, bürgerliche Schlüsselbegriffe wie Redefreiheit zu verstehen. Wenn der Koran einen klaren Führer für das Leben verschafft und der Islam ein Zustand der Harmonie ist, wozu braucht man dann noch die Redefreiheit ? Wenn es kein Konzept von ‚Freiheit’ gibt, dann ist die Idee frei zu sein, um Karikaturen zu veröffentlichen, unsinnig – viel wichtiger ist das Konzept der Gerechtigkeit, wie es vom islamischen Gesetz definiert wird, und es war deutlich ein Vergehen und deshalb eine Ungerechtigkeit, ein Abbild des Propheten zu veröffentlichen. Das ist nicht ein Zusammenprall von Zivilisationen, sondern ein Zusammenprall von Tugendkonzepten.

Die Islamisten sind sehr deutlich darüber. Demokratie ist nicht-islamisch, es ist ein Konzept von Ungläubigen. Islamistische politische Parteien haben ihre Meinung offen gesagt, dass sie keine Absicht haben, die Demokratie zu behalten, wenn sie an der Macht sind, während sie froh darüber sind, den demokratischen Prozess zu benützen, um die Macht zu gewinnen.

Es ist ebenfalls wichtig, im Hinblick auf die Kontroverse um die Karikaturen hinzuzufügen, dass die Redefreiheit eng mit der Religionsfreiheit verbunden ist. Die Redefreiheit ist auch die Freiheit der religiösen Rede, es ist das gleiche Prinzip, das den Muslimen erlaubt, ihre Religion im Westen zu praktizieren, und es ist ebenfalls die Freiheit von progressiven Muslimen, sich gegen die Orthodoxie zu äußern, was sie oft nur im Westen machen können. Die Muslime, die im Protest auf die Straße gehen, sind die gleichen Zeloten, die einen Mann für die Bekehrung zum Christentum töten würden, sie respektieren nicht die Religionsfreiheit. Und dennoch pflegen progressive Westler dieses wichtige Prinzip zu schwächen aus einem fehlgeleiteten Gefühl von kultureller Sensibilität, einer Sensibilität gegenüber Zeloten ? Ironisch ist auch, dass die moderaten Muslime im Westen, die sich gegen die Redefreiheit äußern, genau das Prinzip zu verleugnen pflegen, das es ihnen erlaubt, ihren Glauben zu praktizieren. Hier ist es nützlich, den Zustand der religiösen Freiheit in der muslimischen Welt ins Auge zu fassen. Um es gleich zu sagen: sie existiert einfach nicht im Herzland (und Muslime beschweren sich darüber auch gar nicht) und sie ist oft verändert in so genannten gemäßigten Nationen. In Wirklichkeit ist es so, dass Nicht-Muslime einer regelmäßigen Diskriminierung in muslimischen Ländern entgegensehen. Ja, Muslime wollen die Freiheit haben, ihre Religion zu praktizieren, und sie beschweren sich lauthals darüber, wenn sie diskriminiert werden, doch sie bleiben ebenso eigenartig still, wenn Nicht-Muslime diskriminiert werden.

Der Westen konnte nur erfolgreich sein, indem er die Idee des Bürgerrechts durch einen schmerzhaften Prozess der Trennung der bürgerlichen von der religiösen Autorität weiter entwickelte. Der Islam hat den gleichen Prozess nicht durchgemacht. Die Moschee ist immer noch das Zentrum der Autorität im Islam, sogar mächtige Diktatoren fürchten die Moschee. Jene muslimischen Nationen, die erfolgreicher waren beim Einrichten von Nationalstaaten, liegen an der Peripherie; die ältere kulturelle Traditionen haben, die den reinen Islam der Araber veränderten. In einigen Fällen wird der Islam nicht so ernst genommen und die eigene ethnische Identität wird ernster genommen, somit wird die Entstehung eines Nationalgefühls erlaubt, das auf der Herkunft des Volkes basiert, wie in der Türkei (das Land der Türken), Malaysia (das Land der Malaien), Usbekistan (das Land der Usbeken) etc.

Natürlich ist die Angelegenheit weit, weit komplizierter. Jede Gemeinschaft hat ihre eigenen Besonderheiten. Doch eine Sache ist konstant – die Macht der Kleriker muss gemindert werden – und sogar noch wichtiger als das, die Kleriker und die Gelehrten selbst müssen dem Prozess zustimmen und an ihm teilnehmen. Das kann nicht geschehen ohne einen fast kompletten Umsturz und ein Neuschreiben der Scharia, ohne das Zerschlagen der Madhhab und der Erneuerung des Ijtihad als einem wichtigen Prinzip.

Dort begehen die progressiven Westler den letzten Verrat am progressiven Islam. Indem sie moderate Muslime schützen, schützen sie religiöse Muslime, Menschen, die die Madhhab und die Kleriker unterstützen. Progressive Westler sagen tatsächlich, dass sie den Islam akzeptieren, wie er ist, sie erheben keine Forderung für eine Veränderung des Islams. Stattdessen entschuldigen sie sich ständig für den Islam, versuchen, seine Fehler zu entschuldigen und seine Exzesse herabzumindern – alles unter der fehlgeleiteten Anwendung von kultureller Toleranz.

Letztendlich sind es nicht die westlichen oder die kommunistischen Imperialisten, die die Demokratie im Nahen Osten unterminieren, sondern die progressiven Westler, die keine Forderungen zur Veränderung an die Muslime richten.

schlussfolgerung

Wenn die Progressiven es verfehlt haben, den Islam zu verstehen, dann haben es die Konservativen ebenso getan. Der Irakkrieg war vermutlich ein Versuch, dem Nahen Osten die Demokratie aufzuerlegen. Die Theorie der Neokonservativen war es, dass durch die Entfernung Saddam Husseins die natürlichen demokratischen Impulse des Volkes aufblühen würden.

Der erste Fehler in diesem Plan war, die isolationistischen Tendenzen des Islams und den Verfolgungsreflex zu unterschätzen. Es gab immer die Gefahr, dass ein bedeutender Prozentsatz der Bevölkerung das so sehen würde, nicht als einen Befreiungskrieg, sondern als einen Angriff auf die Souveränität des Islams und auf die Muslime selbst, die Ummah. Es mag viele Muslime geben, die eine Veränderung wollen, doch sie wollen das Eingreifen von Ungläubigen sogar weniger.

Der zweite Fehler war, den Wunsch nach Demokratie im Nahen Osten grob falsch einzuschätzen. Viele wollen keine Freiheit, sie wollen Gerechtigkeit. Das Problem mit dieser Forderung nach Gerechtigkeit ist natürlich, dass sie auf einem komplexen Satz von Missständen basiert, von denen viele völlig intern sind. Unter den vielen arabischen Stämmen mag diese Gerechtigkeit bloß das Abstellen von langandauernden Missständen zwischen den Stämmen sein, besonders zwischen jenen Stämmen mit Macht und Einfluss und jenen Stämmem in einer geringeren Position. Einiges von dem Konflikt im Irak besteht zwischen rivalisierenden Stämmen und Klans, wie sie danach streben, den größten Vorteil in der neuen Ordnung zu gewinnen.

Diese Missstände sind oft nur eine Sache der Wahrnehmung und nicht der Tatsache, und gewiss nicht von der Sorte, die leicht besänftigt werden kann.

Wo immer fremde Regierungen im Nahen Osten eingegriffen haben, haben sie oft die Situation falsch eingeschätzt. Als England Ägypten im Suezkrieg angriff, dachte man, die ägyptischen Massen würden Nasser absetzen, statdessen hielten sie zusammen und besiegten England. Als Russland in Afghanistan intervenierte, traf es auf einen wütenden Widerstand. Nach der Niederlage Russlands versank Afghanistan im Bürgerkrieg. Und jetzt im Irak bleiben die USA in einem Bürgerkrieg stecken, gefangen zwischen rivalisierenden Gruppen von Aufständischen, die um die Macht streiten, doch alle sind sich einig in ihrer Feindschaft gegen die USA.

Welcher Weg führt voran ?

Es ist klar, dass die Macht der Kleriker gebrochen werden muss, doch das kann nur von innen heraus geschehen. Deshalb muss jeder, der an einer positiven Veränderung im Islam interessiert ist, jene internen Kräfte unterstützen, die auf Veränderung drängen.

Natürlich muss das Thema der ökonomischen Ungerechtigkeit angesprochen werden, doch noch einmal: dies ist weitestgehend eine Sache der Wahrnehmung. Die neuerliche Wahl von Hamas hat gezeigt, wie sehr Palästina sowohl von der israelischen Wirtschaft als auch von ausländischer Hilfe abhängig ist. Wie sehr auch viele Palästinenser die Zerstörung Israels und das Ende des westlichen Imperialismus wünschen mögen, würden sie doch bald dem finanziellen Ruin entgegensehen, wenn diese Ziele tatsächlich realisiert würden. Ein unabhängiges Palästina würde voraussichtlich auseinanderfallen und ein misslungener Staat werden. Trotz ihrer nominellen Unterstützung für die palästinensische Sache sind muslimische Bruderstaaten nicht sofort eingesprungen, um die Lücke zu füllen. Sie haben genügend Probleme mit ihrer eigenen Wirtschaft. Nebenbei gesagt kennen sie die Bedeutung der israelischen Wirtschaft für die Region.

Die Ursachen der ökonomischen Ungerechtigkeit im Nahen Osten sind komplex. Es ist eine vereinfachende Scheinheiligkeit zu vermuten, dass alles ein Fehler des Westens sei. Wieso das ? Westliche Technologie und Kapitalinvestment haben geholfen, viele muslimische Ökonomien umzuformen. Und wo haben die ölreichen arabischen Staaten sich ausgesucht, ihre Fonds zu investieren ? Im Westen eher als in Infrastruktur und Bildung.

Der Westen kann sich aus dem Nahen Osten nicht herausziehen, sogar wenn er es wollte. Islamistische Revolutionen sind zum Scheitern verurteilt, weil sie nicht verstehen, wie abhängig der Nahe Osten von der globalen Wirtschaft ist. Isolationismus wird nicht klappen. Die beste Hoffnung auf ökonomische Gerechtigkeit liegt in offenen und innovativen Ökonomien und offenen Gesellschaften. Wenn Indien die Ketten seiner kolonialistischen Vergangenheit abschütteln und eine wachsende ökonomische Macht werden kann, warum kann das der Nahe Osten nicht – besonders dadurch, dass der Nahe Osten eine lebenswichtige strategische Ressource hat, die er nutzen kann, um Kapital anzusammeln ? Was ist mit den Billionen Dollars von den Öleinkünften ?

Hoffnung liegt im Aufbau eines progressiven Islams von innen heraus. Wir müssen unser Möglichstes tun, um die progressiven Kräfte zu unterstützen, wir dürfen ihnen nicht den Rücken zukehren in einem verfehlten Verständnis dessen, was der progressive Islam ist.

Die muslimische Welt versucht, ihren Weg ins 21. Jahrhundert zu finden, indem sie einen enormen Felsblock mit sich schleift, doch anstatt diesen Felsblock loszuwerden, definieren sie sich selbst durch diesen Felsblock – und dann beschuldigen sie die Welt für ihren Mangel an Fortschritt. Ich werde das letzte Wort Marieme Hélie-Lucas überlassen:

Ich werde zuerst das Wort Islamaphobie angreifen. Es ist ein Erfolg der Strategie der Fundamentalisten, dass sie so viele bei den gesellschaftlichen Kräften überzeugt haben, die in diesem Kampf auf unserer Seite sein sollten, dass die Gegnerschaft gegenüber ihren mittelalterlichen Sichtweisen von Religion mit der Gegnerschaft gegen den Islam gleichgesetzt werden kann. Das ist weil ich trotz meiner persönlichen weltlichen Optionen es für sehr nützlich halte, die Arbeit der progressiven und feministischen Theologen – Männer und Frauen – und ihre Versuche voranzubringen, den Gegenwert einer Befreiungstheologie im Islam aufzubauen und respektvolle Bündnisse mit ihnen zu schließen. Je mehr wir diesen Trend sichtbar machen, desto mehr Chancen haben wir, das Monopol über den Islam zu brechen, das die Fundamentalisten geschafft haben, für sich aufzubauen, in der heutigen Welt, wo Religionen einen Status von Heiligkeit erlangt haben, unabhängig von der Politik, die sie vorantreiben.

Ray Harris, März 2006