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Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber



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"Naturwissenschaft und Religion"
und seine Kritiker

Frank Visser

In Naturwissenschaft und Religion (Random House, 1998) hat Wilber einen neuen Gesichtspunkt in der langanhaltenden und oft unfruchtbaren Debatte zwischen Naturwissenschaft und Religion vorgeschlagen. Weder sagt er, dass Naturwissenschaft allein wahr ist, noch dass nur Religion einen Wert hat, auch nicht, dass sich Naturwissenschaft und Religion gegenseitig in Frieden lassen sollten, er sieht sie vielmehr in einer engen Beziehung zu einander. Das hat einige Kritiker beunruhigt, die im allgemeinen nicht sehr mit seinem Werk vertraut sind und die denken, dass Wilber Naturwissenschaft zur Religion machen will oder versucht, Religion mit den Mitteln der Naturwissenschaft zu beweisen. Besonders hat Wilbers Ankündigung, einen weitausholenden Blick auf die Naturwissenschaft zu werfen, zu diesem Verdacht beigetragen.
        In Wilbers Sicht enthält Religion viel mehr als gemeinhin verstanden wird, denn er möchte ausdrücklich ihre mystischen oder esoterischen Aspekte einbeziehen, doch Naturwissenschaft schließt mehr ein als augenfällig ist, denn gemäß Wilber haben wir nicht nur Naturwissenschaft und Humanwissenschaften – was allgemein zugegeben wird – sondern ebenso spirituelle Wissenschaft. Und spirituelle Wissenschaft hat uns eine Menge über die esoterischen Aspekte der Religion zu berichten. Darüber hinaus hat sogar die Naturwissenschaft hier eine Bedeutung, wenn wir eine umfassendere Sicht nehmen. So ist es nicht erstaunlich, dass viele Betrachter durch diese Neubeschreibung der Grenzen zwischen Naturwissenschaft und Religion auf dem falschen Fuß erwischt wurden.
        Sobald Religion esoterisch betrachtet wird, dann - so behauptet Wilber – entsteht eine Weltsicht, die die Welt als vielschichtig ansieht, die von der Materie, durch die subtileren Welten von Verstand und Seele bis in die göttliche Welt des Geistes reicht. Dies bietet uns ein Rahmenwerk für ein Entwicklungsmodell an, in das die menschlichen Bemühungen der orthodoxen Religion, die rationale Naturwissenschaft und die Mystik ziemlich sauber eingepasst werden können. Die orthodoxe Religion ist auf die Bereiche der Emotionen und der konkreten Geistigkeit eingestellt, auf ihre wörtliche Interpretation der Glaubenswahrheiten; rationale Naturwissenschaft hat die abstrakten geistigen Ebenen erreicht (auch wenn sie ihre Gedanken-kraft unglücklicherweise nur auf den materiellen Bereich richtet, was zu der so charakteristischen materialistischen Stimmung der Naturwissenschaft führt), und die Mystik ist in die transpersonalen Welten der Seele eingedrungen.
        Darüber hinaus versucht Wilber, die wissenschaftliche Methode als solche aus der Domäne der Materie hinauszuziehen, mit der sie sich so oft beschäftigt. Wie er schreibt: „ Naturwissenschaft ist eher eine gewisse Haltung des Experimentierens, der Ehrlichkeit und der gemeinsamen Forschung und sie begründet ihr Wissen, wo immer möglich, auf Beweisen." Wir sind so sehr daran gewöhnt, die materialistischen Schluss-folgerungen der Naturwissenschaft zu hören, dass wir wirklich gut daran täten, dieser neuen Sichtweise Gehör zu schenken. Die bloße Tatsache, dass grundsätzlich zwei Varianten der Wissenschaft anerkannt sind – Naturwissenschaft und Humanwissenschaften – sollte uns auf die Tatsache hinweisen, dass die Essenz der Wissenschaft nicht nur von einer von ihnen definiert werden kann. In einigen seiner Bücher hat Wilber vorge-schlagen, dass wahre Wissenschaft drei „Strängen" von Forschung folgen sollte. Um es einfach zu sagen: um eine wissenschaftliche Entdeckung zu machen, muss man 1) einigen Instruktionen folgen, 2) eine Beobachtung machen und 3) dies mit demjenigen von anderen vergleichen, die ebenso den beiden ersten Schritten gefolgt sind.       
        Im Fall der Naturwissenschaften wir diese Prozedur leicht anerkannt. Wenn wir Astronomie betreiben, schauen wir 1) durch ein Teleskop, machen 2) eine Beobachtung und vergleichen sie 3) mit denen unserer Kollegen. Aber in den Humanwissenschaften, so Wilber, ist es nicht anders: wenn die Bedeutung eines bestimmten Textes das Thema ist, sollten wir 1) den Text lesen, 2) seine Bedeutung geistig beobachten und 3) diese Bedeutung mit den anderen diskutieren, die den gleichen Text studiert haben. Sich zu weigern, den Text zu lesen, disqualifiziert einen, eine Meinung über ihn zu haben, sowie die Weigerung, durch ein Teleskop zu schauen, einen aus der Gemeinschaft mit den Astronomen verbannt. Naturwissenschaft und Humanwissenschaften unter eine allgemeine Formel zu bringen, ist originell genug, doch Wilber fährt fort: was ist, wenn die mystischen Aspekte der Religion, wie sie durch Methoden wie Yoga und Meditation dargestellt werden, ebenfalls diesen drei Schritten folgen ? Dies würde uns das Recht geben, von einer "spirituellen Wissenschaft" oder einer "Wissenschaft der Spiritualität" zu sprechen, nicht wahr ? Und tatsächlich führt Wilber die plausible These weiter fort, dass Yoga oder Meditation als eine spirituelle Wissenschaft qualifiziert werden können, wenn wir 1) stundenlang auf dem Boden sitzen und 2) schließlich spirituelle Erfahrungen haben, die wir 3) mit anderen Meditierenden oder einem Lehrer diskutieren können. Formell, nicht materiell, ist dies nichts anderes als Wissenschaft zu betreiben, doch diesmal in unserer eigenen inneren Welt.
        (Natürlich möchte Wilber damit nicht sagen, dass die Resultate dieser spirituellen Wissenschaft oder der Humanwissenschaften zu diesem Stoff jemals die Genauigkeit der Physik haben werden – so ist es nun einmal, und das kann man Wilber kaum anlasten. Je höher wir in die Ebenen der Existenz aufsteigen, desto mehr Graden der Freiheit begegnen wir, desto „unbestimmter" werden unsere Ergebnisse sein. Doch diese Ergebnisse sind noch auf Erfahrung gegründet, sie können kommuniziert werden, was sie nach Wilber als Wissenschaft qualifiziert.)
        Wilber bedauert die Tatsache, dass die Wissenschaft die menschliche Erfahrung auf etwas eingeengt hat, das mit unseren äußeren physikalischen Sinnen gesehen werden kann. Er schlägt eine weitere Sicht von „Empirismus" vor, wo nicht nur sinnliche Erfahrung als legitime Quelle des Wissens anerkannt wird, sondern auch geistige Erfahrung und spirituelle Erfahrung. Das hat viele seiner Kritiker verwirrt; einige haben ihn sogar beschuldigt, die Realitäten des Geistes auf die engen Dimensionen der empirischen Wissenschaft reduziert zu haben. Tatsächlich wird hier das Gegenteil vorge-schlagen: Können wir andere Mittel des Wissens jenseits der Sinne als legitime Quellen wissenschaftlichen Wissens anerkennen, sodass sogar jene Domänen, die traditionell als übernatürlich oder religiös angesehen wurden, wissenschaftlich angegangen werden können ?
        Um es abzuschließen: Kann die Existenz als ganze von diesen drei Wissenschaftstypen abgedeckt werden ? Kann das Absolute mit diesen relativen Mitteln eingefangen werden ? Einige Kritiker fragen sich selbst: Degradiert dies nicht die Spiritualität ? Gibt nicht dieser Versuch, alles Wissen auf Erfahrung zu gründen, die letzte Bedeutung für Naturwissenschaft, als wie breit wir sie auch immer betrachten mögen ? In „One Taste" (dt. Einfach "Das", Shambhala, 1999) finden wir die Antwort zu dieser Frage. Wilber unterscheidet wieder zwischen den drei Typen der Erfahrung – körperlich, mental und spirituell – doch er fügt die Beobachtung hinzu, dass eines niemals durch diese äußeren Mittel entdeckt werden kann: was in uns fühlt, was in uns denkt, was in uns die mystischen Visionen betrachtet - das Selbst. Es ist das Selbst, das nur erreicht werden kann, wenn man Es ist. (Aber dennoch werden Verbindungen dieser „Erfahrung" im Geist und im Körper ein legitimes Feld wissenschaftlichen Studiums schaffen.)
         Daher haben wir hier eine Sicht der Wirklichkeit, die weit genug ist, JEDE Schlussfolgerung der Wissenschaft aufzunehmen – sei sie natürlich, menschlich oder spirituell – ohne der Naturwissenschaft das letzte Wort zu geben, denn sie lässt die Souveränität des Selbst unberührt und – eigenartigerweise – für uns alle zugänglich, denn das Selbst ist sehr nahe, „näher als Hände und Füße", wie es die Upanishaden sagen. Eine tief religiöse und mystische Sicht, die zugleich den gesamten Weltraum für wissenschaftliche Untersuchungen hat, von welcher Natur wir uns nur vorstellen können – klingt das nicht wenigstens interessant ?


Reply by Ken Wilber