INTEGRAL WORLD: EXPLORING THEORIES OF EVERYTHING
Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber



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Integrale Politik

ein spiritueller Dritter Weg

Gregory Wilpert

In einer Zeit des politischen Umbruchs, in der alte Ideologien wie Rechts und Links, Sozialismus, Liberalismus und Konservatismus die politische Vorstellungskraft nicht mehr in dem Maße fesseln, wie sie es einst taten, brauchen wir neue politische Visionen. Einige haben versucht, einen „dritten Weg" zwischen Sozialdemokratie und Konservatismus zu formulieren. Im Folgenden möchte ich die Vision einer Integralen Politik vorstellen, die auf der Grundlage der Arbeit von Ken Wilber beruht.

Was ist ein dritter Weg?

Historisch gesehen tauchten dritte Wege meistens dann auf wenn die existierenden (meistens zwei) dominanten politischen Ideologien als unzureichend angesehen wurden. Im 19. Jahrhundert war Sozialismus ursprünglich gedacht als dritter Weg zwischen Konservatismus und klassischem Liberalismus. Später, im 20. Jahrhundert, entwickelte sich die Sozialdemokratie als dritter Weg zwischen Sozialismus und Konservatismus/Liberalismus/Kapitalismus. Es erstaunt nicht, dass heute einige Politiker und Theoretiker, wie das Bill Clinton, Gerhard Schröder, und Tony Blair, nun ihrerseits einen dritten Weg vorgeschlagen haben zwischen Sozialdemokratie und neo-liberalen Programmen. Statt jedoch die existierenden Glaubenssysteme zu transzendieren, enden neue Programme oft in der ideologischen Mitte zwischen den beiden dominanten Ideologien. Ein solcher „zentristischer" dritter Weg ist mehr ein Kompromiss als ein neue politische Theorie welche die alten Theorien transzendiert in dem sie nachhaltige Antworten vorschlägt für ungelöste soziale Probleme.

Ein wirklicher dritter Weg für das 21. Jahrhundert sollte über die vorhergehenden Ideologien hinausweisen. Integrale Politik löst dieses Versprechen ein. Indem alle wichtigen existierenden Ideologien miteinander in Beziehung gesetzt werden, sowie durch die klare Einführung eines neuen Politikansatzes, der das Beste integriert, was jede Ideologie zu bieten hat und gleichzeitig ihre Unzulänglichkeiten überwindet, stellt Integrale Politik eine brauchbare Alternative dar.

Der integrale dritte Weg

Ken Wilber hat – insbesondere in seinen neuesten Werken (Ganzheitlich Handeln; Eros, Kosmos, Logos; Eine kurze Geschichte des Kosmos) – eine umfassende Landkarte des Kosmos und seiner Entwicklung vorgelegt, die zur Verortung politischer Glaubenssysteme sehr brauchbar ist. Kurz zusammengefasst, argumentiert Wilber dass alle Systeme gleichzeitig Teil und Ganzes sind, welches er mit Arthur Koestler ein Holon nennt. Das heißt, jedes System, welches wir betrachten, sei es eine individuelle Person, ein Atom, eine Gesellschaft oder ein Glaubenssystem, ist gleichzeitig Teil eines größeren Ganzen, eingebettet in einem größeren Kontext, und eine relativ unabhängige Einheit. Darüberhinaus hat jedes Holon ein Innen und ein Außen. Schließlich können wir Holone als isolierte individuelle Einheit analysieren, wie auch in ihrem kollektiven Kontext.

Wilber hat eine Karte entwickelt, mit der Holone konzeptuell organisiert werden können. Ähnlich wie bei der Großen Kette des Seins früherer Jahrhunderte liegt der Schlüssel zum Verständnis dieser Karte in der Fähigkeit jedes Holons, sich selbst zu transzendieren, und dabei neue und tiefere Ebenen oder Kontexte zu erschließen.

Diese vier Quadranten, wie Wilber sie nennt, entsprechen der klassischen Weise, in der sowohl östliche als auch westliche Philosophien die Welt geordnet haben. Im Westen war seit der antiken griechischen Philosophie, und insbesondere seit Immanuel Kant, die Sphäre der Philosophie eingeteilt in das Wahre (objektive Wahrheit), das Gute (moralische Wahrheit) und das Schöne (ästhetische Wahrheit). Im Osten hat der Buddhismus ein ähnliches Konzept in der Form des Buddha (individuelle Wahrheit), des Dharma (objektive Wahrheit) und der Sangha (kollektive Wahrheit). Etwas vereinfacht entspricht objektive Wahrheit der Wissenschaft, der externen Sicht auf alle Holons, sowohl individuell und kollektiv (die beiden rechten Quadranten). Subjektive Wahrheit entspricht der Kunst, die interne Perspektive jedes Holons (der obere linke Quadrant). Und moralische Wahrheit entspricht Ethik und Kultur, die interne kollektive Perspektive jedes Holons (der Quadrant unten links).

Wie Soziologen seit Max Weber aufgezeigt haben lag die größte Errungenschaft wie auch die größte Katastrophe der modernen Gesellschaft darin, dass diese drei Sphären voneinander getrennt wurden. Die Trennung erlaubte jeder Sphäre, sich gemäß ihrer eigenen Logik zu entwickeln, anstatt der Religion untergeordnet zu sein, wie es im Mittelalter und davor der Fall war, als die Kirche darüber entschied, was gut, recht und schön war. Die Unterordnung der Sphären unter der kirchlichen Doktrin erschwerte die weitere Entwicklung jeder Sphäre. Mit dem Beginn der Moderne konnten die Bereiche Kunst, Wissenschaft und Ethik sich endlich im Einklang mit den Wahrheiten ihrer eigenen Sphäre entfalten. Heute ist jedoch diese Differenzierung so extrem geworden, dass es sich eher um eine Form der Dissoziation handelt; die Sphären existieren beziehungslos nebeneinander, und die Sphäre der objektiven Wahrheit, die Wissenschaft, hat die Vorherrschaft über die anderen Sphären erlangt. Die integrale Vision versucht, diese Fragmentierung der modernen Gesellschaft zu überwinden, nicht durch die Wiedereinführung einer neuen kirchlichen Doktrin oder der Dominanz einer anderen Sphäre als der Wissenschaft über die anderen, sondern durch das Anerkennen der Autonomie jeder Sphäre, wie auch ihre Verflechtung und Bezogenheit untereinander. Die integrale Vision integriert das Wahre, das Gute und das Schöne in einer zwangfreien, ganzheitlichen Umarmung.

Wir können diese Einteilung des Universums anwenden auf politische Glaubenssysteme, die wir auf eine solche Matrix projizieren. Eine Achse der Matrix beschreibt den Grad, in dem eine politische Ideologie meint, dass interne oder externe Faktoren uns als Individuen oder Gesellschaft prägen. Konservative neigen beispielsweise zur Ansicht, dass interne Kräfte uns prägen; wir kennen ihre Argumentation, dass Werte und Lebensstil eines Individuums über Armut entscheiden. Linke glauben andererseits, dass externe Kräfte uns prägen, das z.B. Armut die Folge ist von ungerechten politischen oder ökonomischen Bedingungen. Die zweite Achse zeigt an, zu welchem Grad eine Ideologie die Rolle des Individuums bzw. des Kollektivs betont. Nehmen wir als Beispiel einige extreme Ideologien, dann konzentriert sich Faschismus typischerweise auf kollektiv und innen, in dem er sich befasst mit der inneren Motivation von Menschen, ihre Werte oder Kultur, sowie mit der kollektiven Ordnung einer Gesellschaft. Extremer Liberalismus (in den USA als „Libertarianismus" bekannt oder in Europa als „Anarcho-Kapitalismus") sieht ebenfalls die Werte eines Individuums als Schlüssel für Erfolg oder Versagen im Leben, befasst sich aber überwiegend mit dem Individuum. Linke Ideologien, wie Anarchismus einerseits und Staatssozialismus andererseits, sehen die ursächlichen Kräfte als im Außen verursacht, üblicherweise in der Form von Wirtschaft oder Regierung. Anarchismus konzentriert sich auf das Individuum und opponiert im Allgemeinen gegen kollektive Kräfte wie die des Staates, während Staatssozialismus sich auf das Kollektiv konzentriert. Dies sind Beispiele für extremere Formen politischer Ideologien, aber dieses Modell ist auch anwendbar für moderatere Formen, wie die „Neue Linke", „Alte Linke", „Neue Rechte" und „Alte Rechte". Die Ergebnisse einer solchen Analyse können mit einem Diagramm sichtbar gemacht werden.

Dieses Diagramm zeigt jedoch nur zwei der vier Dimensionen von Politik. Die erste Dimension beschreibt, inwieweit eine Ideologie mehr das Individuum oder das Kollektiv betont. Die zweite Dimension beschreibt, inwieweit eine Ideologie von äußerer oder innerer Verursachung ausgeht.

Die dritte Dimension politischer Ideologien hat eine Schlüsselbedeutung: der Grad an Einschließen oder Umarmung. Genauso wie jedes Holon existieren auch politische Argumentationen oder Ideologien in immer tieferen Kontexten. Während einige Ideen oder Argumentationen physische Bedürfnisse als einzigen Kontext haben, betonen andere emotionale Wahrheiten, traditionelle und ethnozentrische Wahrheiten, oder, auf der nächsten Stufe, universelle Wahrheiten. Mit anderen Worten, während faschistische Ideologien auf Argumentationen beruhen die sich auf ethnozentrische Wahrheiten beziehen, gründen liberale Ideologien auf rationalen und universellen Wahrheiten. Diese Unterscheidung von Wahrheiten ist hierarchisch, vom Physischen zum Emotionalen zum Traditionellen zum Rationalen, wobei jeder Schritt seine Vorgänger transzendiert und einschließt, den ganzen Weg bis zur höchsten Stufe, jener von Seele und Geist. Es ist möglich eine Politik zu betreiben die sich auf diese höchste Ebene der Seele und spiritueller Wahrheiten und Kontexte bezieht. Integrale Politik erkennt diese verschachtelte Hierarchie von zunehmend tieferen und weiteren Kontexten an.

Die vierte Dimension von Politik schließlich ist in der Integralen Vision die Art und die Richtung von erwünschter Veränderung (so wie Bewegung oder Zeit im Bereich der Physik manchmal als vierte Dimension betrachtet wird). Manche Ideologien meinen, dass soziale Veränderung auf revolutionäre Weise stattfinden sollte, andere bevorzugen eine reformerische Art, wieder andere behaupten, dass es überhaupt keine Veränderung geben sollte. Ken Wilber unterscheidet zwischen Translation, der Veränderung innerhalb eines Kontextes oder einer gegebenen Ebene, und Transformation, der Veränderung zu einer neuen und höheren Ebene oder Kontext. Das entspricht in etwa dem Unterschied zwischen Reform und Revolution. Darüberhinaus unterscheiden sich Ideologien auch in der Richtung erwünschter Veränderung; manche treten dafür ein, dass Veränderung zu einer höheren Ebene führen sollte, während andere meinen, dass wir zu einer früheren Ebene zurückkehren sollten. Zum Beispiel argumentieren einige radikale Ökologen, dass die Gesellschaft zurückkehren sollte zu einer sozialen Organisationsform der Jäger- und Sammler-Stammesgesellschaften, während Sozialisten dafür eintreten, dass die Gesellschaft eine neue, noch nie dagewesene Organisationsform finden sollte, welche die derzeitige transzendiert (beide aber argumentieren auf der rechten Seite des Diagramms, der externen Verursachung).

Integrale Politik behauptet, dass alle diese vier Dimensionen in Betracht gezogen werden müssen wenn wir politische Analysen durchführen und Politik entwerfen. Integrale Politik stellt einen „dritten Weg" in dem Sinne dar, dass es die bestehenden Glaubenssysteme in allen Dimensionen integriert und transzendiert.

Integrale Politik und Spiritualität

Die Praxis einer Integralen Politik braucht eine spirituelle Orientierung, weil es eine Vision ist, die über alltägliche Rationalität hinausgeht. Ich unterscheide hier zwischen Religion und Spiritualität. Unter Religion verstehe ich eine spezifische Menge von Glaubenssätzen und Praktiken, welche sich zu einem Bereich jenseits des Normalen hin orientiert; mit Spiritualität meine ich eine Offenheit gegenüber dem Nicht-Alltäglichen, gegenüber dem Wunder des Lebens, der Natur, dem Suprarationalen. Integrale Politik hat einen Bezug zu Spiritualität weil sie Intuition erfordert, die Fähigkeit, die Dinge ganzheitlich zu sehen, sowie eine Offenheit für Bereiche jenseits des Rationalen. Die Art und Weise, wie wir uns mit Integraler Politik vertraut machen können ist ähnlich wie das Einstimmen auf das Spirituelle, nämlich durch kontemplative Praktiken wie Meditation. Integrale Politik bleibt nicht dabei stehen, lediglich Spiritualität der Politik hinzuzufügen. Stattdessen wird ein Platz für Spiritualität in der Politik gefunden, und ein Platz für Politik in der Spiritualität.

Historisch gesehen waren die westlichen monotheistischen Religionen wie Christentum, Islam und Judentum das, was Nietzsche „appollonisch" nannte. Das bedeutet, dass sie versuchten, innerhalb der Großen Kette des Seins zu Gott und der Umarmung des Einen vorzustoßen, hinauf zum Geist. Im Grunde genommen wurden die Menschen in die Richtung des Aufstiegs gedrängt, aufwärts in der Großen Kette des Seins. Das traurige Ergebnis war jedoch oft eine Zurückweisung oder Dissoziation von dem, was vorher kam, von den unteren Ebenen, wie die Erde, der Körper, das Sinnliche, das Emotionale. Um diesen Prozess umzukehren schlug Nietzsche eine andere Einstellung vor, die er „Dionysisch" nannte, um Menschen wieder in den Kontakt mit ihren grundlegenden Bedürfnissen und Körpern zurückzubringen. Er befürwortete einen Abstieg, eine Abwärtsbewegung in der Kette des Seins, eine erneute Umarmung des Vielen, statt des Strebens zum Einen.

Integrale Politik erkennt den Wert des ganzen Spektrums des Bewusstseins an, vom Körper über die Emotion zum (rationalen) Geist zur Seele zum Geist, und betrachtet daher Aufstieg und Abstieg nicht als entweder/oder, sondern als sowohl/als auch. Der reine Aufstieg kann schnell zu einer Dissoziation von den früheren Ebenen des Seins führen, der reine Abstieg kann dagegen in die Regression führen. Was wir stattdessen brauchen ist ein Aufstieg zu den höheren Ebenen des Seins, die gleichzeitig und bewusst alle Ebenen die vorher waren integriert. Für die politische Praxis bedeutet dies, dass wir, während wir höhere und angemessenere Formen sozialer Organisation suchen – vermutlich in der Form globaler Politik und Ökonomie -, auch die Gemeinschaft, das Individuum und die Erde wieder umarmen und integrieren müssen.

Die Prinzipien Integraler Politik

Aufbauen auf dem vorhergehendem können wir einige Kernprinzipien einer Integralen Politik skizzieren. Diese sind nicht gemeint als starre Regeln, sondern eher als gemeinschaftlich akzeptierte Richtlinien für das, was eine Integrale Politik umfassen sollte.

1. Eine integrale Vision: Integrale Politik basiert auf einer Vision die in der Lage ist, Gegensätze zu integrieren und sie als non-dual auszuhalten. Angewandt auf die vierdimensionale Karte die wir vorher entworfen haben bedeutet dies zu realisieren, dass politische Realität - wie jede Realität – individuelle und kollektive, interne und externe, frühere und spätere Entwicklungsebenen enthält, die Umarmung der Vielen und das Streben zum Einen. Jedes Bemühen, eine größere Einheitlichkeit zu erschaffen, sei es auf regionaler oder globaler Ebene, muss gleichzeitig die Integration dessen enthalten, was vorher war, das Nationale, Kommunale, Individuelle und die Erde. Ken Wilber nennt diesen Ansatz „Alle Quadranten, alle Ebenen".

Vor kurzem wurde von Politikern des dritten Wegs wie dem Soziologen Anthony Giddens und Clinton vorgeschlagen, dass wir anerkennen dass die Rechte eines Individuums begleitet sein müssen von Verantwortung für die Gemeinschaft. Aber das ist nur ein Weg, um beide zu integrieren. Der Schlüssel liegt darin, Formen sozialer Organisation zu finden die gleichzeitig individuelle Rechte und kollektive Güter erhalten und fördern. Wir brauchen eine Gesellschaft in der, um Marx zu zitieren, „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist."

Linke Politik nimmt typischerweise an, dass wir überwiegend durch äußere Faktoren geprägt werden, und rechte Politik nimmt an, dass interne Faktoren uns prägen. Integrale Politik erkennt und respektiert das Innen von Individuum und Gesellschaft genauso sehr wie externe Faktoren, die eine gewaltige Rolle spielen im Leben von Menschen.

2. Integrale Moral: Der „Alle Quadranten, alle Ebenen"-Ansatz beinhaltet eine integrale Moral, die Wilber „grundlegende moralische Intuition" nennt. Damit ist gemeint, die größtmögliche Entwicklung für die größtmögliche Zahl von lebenden Wesen zu erhalten und zu fördern. Da wir nicht vorsätzlich das Innere von Individuen oder Gesellschaften neu arrangieren können, bedeutet dies für die Praxis einer Integralen Politik dass das Innere vor allem berücksichtigt wird durch die Gestaltung derjenigen objektiven, externen Bedingungen, die ein Höchstmaß an subjektiver, innerer Entwicklung für Individuen und Gesellschaft erlauben.

3. Erst Translation, dann Transformation: Die integrale Perspektive erkennt, wann Fortschritt schrittweise sein sollte, d.h. innerhalb einer gegebenen Entwicklungsebene, und wann er qualitativ sein sollte, d.h. von einer Ebene zur nächsten. Transformation oder Revolution, die Bewegung von einer Ebene zur nächsten, ist nur dann empfehlenswert wenn alle Handlungsmöglichkeiten einer Ebene erschöpft sind und die Gesellschaft bereit ist für den Schritt auf die nächste Ebene. Wenn die Bedingungen für Transformation nicht gegeben sind ist mehr Translation oder Reform auf der aktuellen Ebene notwendig. Integrale Politik erkennt die Angemessenheit sowohl von Reform als auch von Revolution an, indem jede ihre Zeit und ihren Platz hat, abhängig von den Umständen und der Phase sozialer Entwicklung. Integrale Politik ist im Allgemeinen bestrebt, die Gesellschaft sanft auf die nächste Ebene zu heben, aber nur wenn sie dafür bereit ist.

4. Entwicklungspathologien: Integrale Politik versucht zu erkennen, wann eine bestimmte Institution oder ein soziales Arrangement pathologisch wird und entweder weitere Entwicklung abblockt oder tatsächlich gegen die grundlegende moralische Intuition arbeitet. Armut kann zum Beispiel ein Hinderungsgrund sein für individuelle und soziale Entwicklung wenn diese Armut den Zugang von Individuen zu Entwicklungsressourcen unmöglich macht (angemessene medizinische Versorgung, Bildung, Nahrung, Schutz, usw.). Wenn also eine Gruppe oder ein Individuum eine andere Gruppe oder Individuum unterdrückt macht dies die vollständige Entwicklung der Unterdrückten unmöglich oder zumindest sehr schwierig. Aber genauso wie es externe Entwicklungsblockaden oder -pathologien geben kann, so kann es auch interne geben. Eine Kultur beispielsweise, welche die Möglichkeit für Entwicklung leugnet, die annimmt, sie verkörpere die letztgültige Weisheit die gesellschaftlich möglich ist, würde sämtliche transformative oder spirituelle Praktiken zurückweisen, mit denen die Kultur eine neue Ebene der Achtsamkeit erreichen könnte. Hier ist natürlich die Bedeutung der Bildungspolitik sehr stark, weil wir Wege finden müssen um sicherzustellen das jeder, auch der am wenigsten Begünstigte, eine Möglichkeit hat um sein volles Potential zu erreichen.

Eine Anwendung Integraler Politik: Globalisierung

Globalisierung ist womöglich gleichzeitig das komplexeste und wichtigste Thema unserer Zeit. Es lohnt sich daher zu sehen, was Integrale Politik dazu zu sagen hat.

Eine wichtige Eigenschaft jeder Entwicklung besteht darin, dass nach einer Bewegung auf eine neue Ebene mehr eingeschlossen wird. Das bedeutet, wenn Atome sich zusammenschließen um Moleküle zu bilden schließen sie die Eigenschaften von Atomen mit ein und fügen neue Eigenschaften oder Charakteristika von Molekülen hinzu. Dies passiert auf dem ganzen Weg, hinauf zu Zellen und mehrzelligen Organismen. Das gleiche gilt für individuelle subjektive Entwicklung (der obere linke Quadrant), wo physische Sinneswahrnehmungen eingebettet sind in Emotionen, welche eingebettet sind im Gefühl der Gruppenzusammengehörigkeit, welches eingebettet ist in Rationalität. Für das Thema Globalisierung sind insbesondere die kollektiven Quadranten von Bedeutung, wo die Einheiten sozialer Entwicklung sich von Sippschaften zu Stämmen, Nationen, Regionen, und schließlich zum Globalen ausdehnen, wobei jede Ebene mehr einschließt als die vorhergehende. Jedoch existieren in jeder der vorher erwähnten Quadranten mehrere Entwicklungslinien. Dies bedeutet, dass die Dynamik zunehmender Einschließung nicht nur für die Quadranten gilt, sondern auch für alle sozialen Entwicklungslinien, ob ökonomisch, rechtlich, moralisch oder politisch. Globalisierung im Sinne globaler Einschließung ist mit anderen Worten eine natürliche Konsequenz menschlicher Entwicklung. Die Frage die sich stellt ist mit welcher Geschwindigkeit jede dieser Linien sich zu einer globalen Umarmung hinbewegt und ob dabei pathologische Erscheinungen die Entwicklung mancher Linien oder Bevölkerungsteile verhindern.

Wenn wir jedoch die heutige Welt untersuchen sehen wir dass die derzeitige Ausprägung der Globalisierung sich nicht entlang aller möglichen Dimensionen oder Linien menschlicher Erfahrung entwickelt. Heutzutage werden nur einige Aspekte menschlicher Entwicklung globalisiert, während andere ausgelassen werden. Genauer gesagt neigen Wirtschaft und einige kulturelle Elemente eher zum Globalen, während Moral und Politik im Großen und Ganzen feststecken auf der nationalen Ebene (mit der Europäischen Union als bemerkenswerte Ausnahme). In Begriffen Integraler Politik können wir dieses Ungleichgewicht als Pathologie einstufen, da eine Dissoziation vorliegt zwischen verschiedenen Entwicklungslinien, in dem Sinne dass das neo-liberale ökonomische Projekt den Wert der Entwicklung einer globalen Politik nicht anerkennt.

Und nicht nur das, die wirtschaftliche Globalisierung hat bisher zu einer Zunahme der ökonomischen Polarisierung geführt zwischen verschiedenen Völkern dieser Welt im Verlauf der vergangenen dreißig bis vierzig Jahre. So lag beispielsweise laut Zahlen der Weltbank in 1960 das Einkommensverhältnis zwischen den 20% der reichsten und 20% der ärmsten Länder bei 30:1; heute liegt dieses Verhältnis bei 75:1, ohne Anzeichen einer Verlangsamung. Diese ökonomische Polarisierung stellt eine Dissoziation dar innerhalb der Linie wirtschaftlicher Entwicklung, indem wohlhabende Gruppen immer reicher werden, während die armen Gruppen verarmen oder zumindest ökonomisch stagnieren. Das Problem dieser Dissoziationen, sowohl innerhalb der wirtschaftlichen Linie wie auch zwischen der wirtschaftlichen und der politischen Linie besteht in schwerer sozialer Ungerechtigkeit und in der Blockade weiterer Entwicklung. Die massive Armut in der heutigen Welt macht es den Armen sehr schwer, wenn nicht unmöglich, ihr volles Potential zu entfalten. Die Dissoziation zwischen ökonomischer und politischer Globalisierung bedeutet auch, dass wirtschaftliche Prozesse von politischen abgekoppelt werden, und sich daher demokratischer Kontrolle entziehen, so dass mächtige ökonomische Akteure tun können, was ihnen beliebt, während die weniger Mächtigen die Konsequenzen erleiden müssen.

Auf dem Weg zu einer neuen Systemlogik: Globaler Neo-Keynesianismus

Eine Integrale Politische Ökonomie

Wenn wir die Prinzipien Integraler Politik ernst nehmen, müssen wir danach streben, „die größtmögliche Entwicklung für die größtmögliche Zahl von Lebewesen zu erhalten und zu fördern". In der Praxis bedeutet dies, dass wir Wege finden müssen um wirtschaftliche und politische Entwicklung durch eine globalisierte politische Ordnung in Balance zu bringen, so dass zukünftiger wirtschaftlicher Fortschritt nicht zu einer noch größeren ökonomischen Polarisierung führt. Historisch gesehen ist dieses spezielle Ungleichgewicht nicht neu, da wirtschaftliche Integration häufig schneller voranschritt als politische Integration. Im Folgenden möchte ich eine Weiterentwicklung wirtschaftlich-politischer Beziehungen grob skizzieren, um eine Idee davon zu geben, wie die nächste Stufe unserer politisch-ökonomischen Organisation sein könnte.

Mit der Entstehung des Kapitalismus und der Erklärung seines Funktionierens, zuerst gegeben durch Adam Smith, kann man sagen dass es eine Phase war in der die Wirtschaft überwiegend national war und die politische Ordnung nicht in der Wirtschaft intervenieren sollte. Politik war daher praktisch nicht-existent so weit es die Wirtschaft betraf (mit der Ausnahme vielleicht, dass Verträge eingehalten werden mussten). Dies war die Phase des klassischen Liberalismus, der im Grunde genommen nicht-regulierten nationalen Ökonomie, die in West-Europa um 1800 begann und bis in die 1930er Jahre andauerte. Diese Phase endete aufgrund ihrer eigenen Instabilität, versinnbildlicht durch die Große Depression. Die nächste Phase war klassischer Keynesianismus, welcher – im Einklang mit den Prinzipien, die Maynard Keynes entworfen hatte – der nationalen Politik eine bedeutende Rolle gab in der Führung der nationalen Wirtschaft (ergänzt durch ein wenig internationale Kontrollen). Diese Phase dauerte bis zu den frühen 1970ern, als der Keynesianismus aufgrund seiner eigenen Instabilität zusammenbrach. Er war nicht in der Lage, die Widersprüche zwischen den Anforderungen der Wirtschaft und der allgemeinen Bevölkerung in Einklang zu bringen. Das faktische Ergebnis war die zunehmende Verschuldung der westlichen Wohlfahrts-Staaten (und später eine Schuldenkrise für die Dritte Welt). Die Zunahme des Welthandels begann außerdem zunehmenden Druck auszuüben, um ein neues System politisch-ökonomischer Regulierung zu erschaffen, dadurch dass Unternehmen Standorte mit den besten Bedingungen für Investitionen auswählten, unabhängig davon, ob sie innerhalb oder außerhalb der politischen Ordnung lagen, die für die Regulierung zuständig war. Die 1970er stellen somit den Beginn einer globalen Herrschaft des ökonomischen Neo-Liberalismus dar, die begleitet war von einer Beharrlichkeit nationaler Politik. Dies ist im Grunde genommen die Phase und der Typus von Globalisierung, die wir nach wie vor erleben.

Die nächste Phase wird also aller Wahrscheinlichkeit nach durch ein Aufholen der Politik gekennzeichnet sein auf die gleiche globale Ebene, auf der die Wirtschaft bereits tätig ist. Mit anderen Worten, weil der internationale Neo-Liberalismus nicht haltbar ist wegen der zunehmenden Polarisierung und Umweltzerstörung die er verursacht, können wir eine neue Phase in der näheren Zukunft erwarten, die des globalen Neo-Keynesianismus, wenn auch die politische Ordnung global wird und die globale Ökonomie regulieren kann. Ein Beispiel für diesen Prozess ist die Europäische Union, welche zur zeit eine stärkere regionale (Europa-weite) politische Ordnung einführt, genau aus dem Grund um besser mit den ökonomischen, sozialen und ökologischen Problemen dieser Region umgehen zu können.

Viele prominente Ökonomen haben bereits Vorschläge unterbreitet zur Schaffung einer globalen Neo-Keynesianischen politischen Ökonomie, wie der frühere Chef-Ökonom der Weltbank Joseph Stiglitz, der Entwicklungs-Ökonom Jeffrey Sachs aus Harvard, Wirtschafts-Nobelpreisträger James Tobin, und der globale Währungspekulant George Soros. Ihre Vorschläge reichen von der Einführung einer globalen Steuer auf Währungsspekulationen (die Tobin-Steuer) bis zur Schaffung einer globalen Zentralbank um Kapitalkontrollen zu internationalisieren. Das vorrangige Ziel dieser Vorschläge ist im Allgemeinen die gängige Praxis des „Schwarzer Peter"-Spiels zu beenden, in dem Länder um die besten Investitionsbedingungen wetteifern in dem sie alle nationalen Einschränkungen oder Kontrollen auf Investitionen abbauen (von Umwelt- über Arbeits- bis hin zu Menschenrechts-Gesetzgebung). Am allerwichtigsten ist die Tatsache, dass solche globalen Neo-Keynesianischen Kontrollen auch zu einer Umkehrung der globalen wirtschaftlichen Polarisierung beitragen können.

Wir sollten jedoch nicht der Illusion unterliegen, dass der globale Neo-Keynesianismus der Endpunkt unserer politisch-ökonomischen Entwicklung darstellt. Auch er wird früher oder später an ähnlichen internen Widersprüchen leiden an denen der nationale Keynesianismus litt, und wir, als globale Gesellschaft, werden dann eine neue Systemlogik suchen müssen. Bis es jedoch soweit ist, ist der globale Neo-Keynesianismus die wahrscheinlichste Alternative.

Auf dem Weg zu einer neuen kulturellen Logik

Ein Schlüsselelement Integraler Politik ist die Aufmerksamkeit für die interne, subjektive, kulturelle Seite (Quadrant unten-links). Meine bisherige Diskussion über Globalisierung ging um das Finden einer neuen System-Logik; d.h., ich habe mich auf eine Diskussion über die externe, objektive, soziale Sicht der Dinge konzentriert. Die Einsicht Integraler Politik liegt darin, dass Lösungen die sich ausschließlich auf das Externe konzentrieren (das sozial-systemische) unvollständig bleiben wenn sie nicht das interne (das kulturelle) in den Blick nehmen. Mit anderen Worten, ein globaler Neo-Keynesianismus braucht als Typ einer integralen politischen Ökonomie eine integrale Kultur wenn wir nicht nur eine Translation sondern eine Transformation unserer Gesellschaft anstreben. Regierungen und ihre Bevölkerungen werden keinen Neo-Keynesianismus einrichten wollen wenn sie nicht auch ein gewisses Maß an Solidarität und Mitgefühl für die Welt jenseits ihrer Grenzen empfinden. Die Völker dieser Welt müssen bereit sein, als Menschheit zu denken statt als Nation, heute mehr denn je zuvor.

Diese Ausdehnung menschlicher Sympathie über den Globus ist jedoch nur en Teil dessen, was eine integrale Kultur ausmacht. Ein anderer Teil beinhaltet die Fähigkeit und die Bereitschaft, individuelles und kollektives, objektives und subjektives, Aufstieg und Abstieg zu integrieren. Die Integration des Individuellen und des Kollektiven im Kontext der Globalisierung bedeutet, dass die Vorteile die viele durch globalen Handel, Kultur und Interaktion erhalten die Integrität jedes Einzelnen auf diesem Planeten nicht beeinträchtigen. Dies würde zum Beispiel bedeuten, dass wir aktiv die Rechte indigener Kulturen schützen müssen, von Minderheiten, von den weniger Mächtigen im Allgemeinen. Gleichzeitig können die Rechte von Individuen nicht getrennt werden von ihrer Verantwortung für die Gesellschaft und die Umwelt.

Die Integration des Objektiven und des Subjektiven bedeutet im globalen Kontext zu verstehen, dass der Schritt zu einer neuen globalen systemischen Logik begleitet sein muss von einer neuen kulturellen Logik.

Schließlich bedeutet die Integration von Aufstieg und Abstieg dass wir, während wir ein neues globales Bewusstsein entwickeln und eine neue globale politische Ökonomie – mit anderen Worten, neue höhere Integrationen -, auch das was vorher war berücksichtigen müssen, unsere Gemeinschaft und unsere natürliche Ökologie. Ein globaler Neo-Keynesianismus muss begleitet sein durch eine Rückkehr zum Lokalen (nicht ein lokales Stammesdenken, sondern ein kosmopolitisches). Wir müssen dies tun, weil wir Menschen sind und unsere Referenz-Maßstäbe begrenzt sind, wie die lokale Gemeinschaft und die lokale Umgebung. Diese menschlichen Maßstäbe werden genau deshalb wichtiger weil das Globale ebenfalls an Bedeutung zunimmt.

Das Lokale wird im Zeitalter der Globalisierung nicht nur wegen seiner menschlicheren Maßstäbe wichtiger, sondern auch aus Gründen der Demokratie und sozialen Gerechtigkeit. Wenn die Macht die nationale Ebene verlässt und global wird, wird sie auch entfernter von Alltagserfahrungen und alltäglichen Anliegen, und abstrakter. Eine Möglichkeit, dem Individuum Macht und Verantwortung zurück zu geben liegt im Zurückdelegieren von Macht an die lokale Gemeinschaft. Praktische Beispiele für solch einen Prozess können größere Selbst-Suffizienz in der Sphäre der Produktion bedeuten (mehr lokaler Handel), die Einführung lokaler Währungen (die viele ökonomische und ökologische Vorzüge haben), und größere Autonomie in der Entscheidungsfindung, insbesondere was die Verwendung von öffentlichen Einnahmen angeht, die vom Staat zurückkommen. Die Vergrößerung und Ermächtigung von Demokratie auf der lokalen Ebene muss natürlich begleitet sein durch eine Demokratisierung der Macht auf allen Ebenen, vom Lokalen zum Globalen.

Man könnte einwenden, dass die Wahrnehmung dass Globalisierung eine notwendige und unterstützenswerte Dynamik ist, nicht vereinbar ist mit einem Ruf nach Lokalisierung. Dies ist jedoch nicht notwendigerweise so wenn wir sowohl das Lokale und Globale achten indem wir Dinge wie Sympathie, Solidarität, Kommunikation globalisieren, wie auch die Produktion von Gütern, die nur in bestimmten Bereichen hergestellt werden können (wie z.B. tropische Früchte, seltene Medizin, hoch entwickelte Technologie, usw.), und die Produktion von Gütern des täglichen Gebrauchs lokalisieren (wie z.B. Grundnahrungsmittel, grundlegende Haushaltsgüter, einfache Elektronik usw.), sowie unsere Verbindung zur Erde und zu unserer Gemeinschaft. Integrale Politik bedeutet ja schließlich die Integration von Gegensätzen, von denen vorher angenommen wurde, dass sie sich gegenseitig ausschließen.

Während die hier skizzierte Integrale Politik keine konkrete politische Plattform darstellt ist es möglich, aus den genannten Prinzipien konkrete Politik abzuleiten. Integrale Politik kann dazu beitragen, Politik auf eine neue Ebene zu bringen und Lösungen zu finden, die nicht bloß Kompromisse sind, sondern Lösungen die aus einem höheren Verständnis heraus auftauchen, durch die zwanglose Vereinigung von Gegensätzen. Und Integrale Politik kann unser grundlegendes menschliches Bedürfnis nach Seele beantworten, durch die Anerkennung des Wertes von Spiritualität, und indem Spiritualität eine bedeutende Rolle eingeräumt wird in der Formulierung einer Politik für das dritte Jahrtausend.

Gregory Wilpert ist freier Publizist und Mitbegründer des Politikbereichs in Ken Wilber's Integral Institute. Der Autor dankt Wilber, Jack Crittenden und Thomas Jordan für ihre hilfreichen Anmerkungen zu diesem Aufsatz.

Literatur:

Giddens, A.: Der dritte Weg. Die Erneuerung der sozialen Demokratie, Suhrkamp, Frankfurt/Main 1999

(Übersetzung: Max Peschek)