INTEGRAL WORLD: EXPLORING THEORIES OF EVERYTHING
Ein Forum für eine kritische Diskussion über die integrale Philosophie von Ken Wilber



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"KRITIK HAT SPIRITUELLEN WERT"

DIE LEIDENSCHAFT DES KEN WILBER

Frank Visser

Die englische Unterscheidung von "mind" und "spirit" wird hier durch das Schriftbild als "Geist" und " Geist " wiedergegeben.

Seit vielen Jahren wird Ken Wilber (geb. 31.01.1949) als einer der wichtigsten Denker der transpersonalen Psychologie (eine der wenigen psychologischen Schulen, die spirituelle Erfahrungen ernst nimmt) betrachtet. In der alternativen Welt galt er immer als ein etwas seltsamer, um nicht zu sagen, bösartiger Bursche.
Viele greifen zu Jung und bleiben dabei -- Wilber nicht. Viele verachten Freud -- Wilber nicht. Viele sehen im Holismus das neue Evangelium -- Wilber nicht. Viele meinen, der Intellekt sei an allem Schuld -- Wilber nicht.
Was hat dieser Mann für eine Vision, der seit nun zwanzig Jahren schwierige -- und manchmal auch nicht so schwierige, aber immer höchst ungewöhnliche -- Bücher über spirituelle Psychologie und ihre weiteren Folgerungen geschrieben hat? Frank Visser aus Holland traf ihn persönlich in Boulder.

Als Wilber-Beobachter der ersten Stunde habe ich seine Veröffentlichungen seit den frühen Achtziger Jahren verfolgt. Viele Jahre lang versuchte ich vergeblich mit ihm in Kontakt zu kommen. Als ich The Atman Project in meiner Studentenzeit las (ich machte 1987 den Abschluß als Religionspsychologe), wußte ich mit einem Schlag, daß Wilber fähig war, zu erreichen, wonach ich zu jener Zeit auf der Suche war: einen genuin wissenschaftlichen Ansatz für die menschliche Spiritualität. Ich versuchte Wilber an meiner Universität publik zu machen, traf aber nur auf höfliches Interesse oder Gleichgültigkeit. Ich übersetzte das Buch, veröffentlichte es, geschäftlich eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit, und schrieb Wilber weiterhin Briefe mit Kommentaren -- vergebens. Mittlerweile hatte ich erfahren, daß er wie ein Einsiedler lebte und arbeitete, seine Post nicht beantwortete und mit Kollegen zumeist nur durch seine Veröffentlichungen kommunizierte -- so wußte es zumindest die Legende.

In den Mitt-Achtzigern und zehn Bücher später war für mehrere Jahre nichts von ihm zu hören (seine Frau war ernsthaft erkrankt und er ließ das Schreiben ganz sein -- über diese Zeit schrieb er später das Buch Grace and Grit --). Die Chancen ihn zu treffen schienen auf fast Null gesunken zu sein. Aber dann erschien 1995 ein unglaublich massives Buch von ihm, mit dem seltsamen Titel Sex, Ecology, Spirituality [Sex, Ökologie, Spiritualität; deutscher Titel Eros, Kosmos, Logos ]. In jenem Jahr war ich in den USA, um am jährlichen Kongreß der International Transpersonal Association [Internationale Transpersonale Gesellschaft] teilzunehmen. Bei dieser Gelegenheit hörte ich von einem anderen Buch A Brief History of Everything. Ich konnte kaum mit seiner Übersetzung warten!

Auf dem Rückweg besuchte ich das Theosophical Publishing House [Theosophischer Verlag] in Wheaton (ich bin selber Theosoph), das The Atman Project verlegt hatte, und hatte solch ein inspiriertes Gespräch mit seiner Chefherausgeberin über Wilber, daß sie, als ich gerade gehen wollte, mir seine geheime Fax-Nummer auf einem Zettel gab.

FAX-BEZIEHUNG

Wieder daheim, versuchte ich sofort mein Glück und faxte Wilber meine Eindrücke vom transpersonalen Kongreß -- und die Fragen, die ich über Jahre angesammelt hatte. Ich mußte nicht lange auf die Antwort warten. Schon am nächsten Tag kam ein Fax von Wilber mit einer langen Antwort. Das war der Anfang eines intensiven Gedankenaustausches, der bis heute anhält -- für lange Jahre nur per Fax, man könnte beinahe von einer freundschaftlichen Fax-Beziehung sprechen. Mittlerweile sind wir aber zu E-Mail übergegangen.

Als ich am Jahresende 1996 im Internet die Ankündigung einer Wilber-Konferenz für Januar 1997 in San Francisco fand, begann es mich zu jucken. Sollte ein Treffen mit Wilber schließlich doch möglich sein? Die Konferenz war die Fortführung einer Diskussion, die in drei aufeinanderfolgenden Ausgaben der ReVision gedruckt worden war (die ursprünglich von Wilber mit-gegründet worden war, aber seit vielen Jahren eine andere Richtung vertrat). Für diese Ausgaben hatten seine Gegner -- wie Stanislav Grof, Michael Washburn und einige andere -- lange Artikel geschrieben und Wilber hatte diese Kritiken Punkt für Punkt beantwortet, so daß zum erstenmal so etwas wie ein wirklicher Dialog über transpersonale Fragen Gestalt annahm.

Die Tatsache, daß Wilber nicht bei der Konferenz anwesend sein würde, überraschte mich nicht; das war seine Art während der letzten zwanzig Jahre. Aber wäre er denn nicht neugierig, was über ihn und seine Arbeit gesagt würde? Ich riskierte es und schlug vor, ihn gleich nach der Konferenz zu besuchen, bei sich zu Hause in Boulder, um über die Vorgänge zu berichten und Hallo zu sagen.

ZUHAUSE

Aber leider war er auf einem Retreat zu jener Zeit, antwortete er, danach würde er am Naropa Institut unterrichten, und dann müsse er weiter hart am Folgeband von Sex, Ecology, Spirituality arbeiten. Aber am nächsten Tag kam wieder ein Fax: Wegen der Wilber-Konferenz wollte sein Verlag, Shambhala, sein neues Buch The Eye of Spirit -- das zum Teil in einer langen Antwort auf die Konferenzthemen bestand -- einige Monate früher herausbringen. Dafür müsse er in San Francisco sein, wo die Konferenz stattfand, und nach der Konferenz würde er sich mit einigen guten Freunden zu Parties treffen, zu denen ich herzlich eingeladen sei. Aber vielleicht wäre er auch gleich wieder zu Hause in Boulder...

Da die Zeit knapp war und ich meine Flüge buchen mußte, drängte ich auf Antwort. Sie kam in Form einer handgeschriebenen Faxnotiz: "Sie können für eine Nacht bei mir übernachten. Ich habe ein Gästezimmer. Ankunft Montag, Abreise Dienstag." Fünfzehn Jahre Geduld waren es endlich Wert gewesen...

Mit etwas Glück erwischte ich ein Ticket von San Francisco nach Denver, obwohl United Airlines beinahe das ganze Projekt durch den Preis von 1250 Dollar für Hin- und Rückflug gekippt hätte. Glücklicherweise bekam ich bei einer obskuren asiatischen Reiseagentur ein billigeres Ticket für den Flug mit einer in Denver beheimateten Gesellschaft. Voller Erwartungen flog ich nach Denver, wo ein Bus mich nach Boulder bringen sollte.

In Boulder traf ich Wilber in der Halle eines Hotels namens Boulderado, wie er vorgeschlagen hatte. Es ist nicht allzu schwer, Ken Wilber in einer vollen Hotelhalle zu erkennen; mit seiner hohen Statur und dem kahlen Kopf überragt er jedermann. Er kam mit einem breiten Lächeln auf mich zu und nahm mich mit zu seinem draußen wartenden Jeep.

In diesem Moment begann ein freundliches Gespräch, das alles berührte, die Konferenz letztes Wochenende, die überwältigende Naturschönheit Colorados, die empörenden Preise der Fluggesellschaften und Dinge, die ihm gerade durch den Kopf gingen. Nach einer Fahrt durch die Berge erreichten wir sein Haus -- er lebt in großer Höhe in einer Art Chalet, das an den Rocky Mountains klebt, die von den Ebenen dort unten aufsteigen. Es bietet eine Panorama-Aussicht.

Wir betreten das Haus, setzen uns in die Küche seines Wohnzimmers [ein Raum, Koch- und Wohnbereich sind durch eine Art Bartheke getrennt] -- ich auf einem Barhocker, er lehnt sich neben dem Spülbecken an einen Schrank -- und beginnen eine Diskussion, die für neuneinhalb Stunden ohne Unterbrechung andauern wird. Es ist vier Uhr Nachmittags und bis ungefähr halb zwei Uhr Nachts reden und reden wir ununterbrochen über die tiefsten (und profansten) Dinge. Wilber ist sehr intensiv in allem was er tut. Er kann sehr leidenschaftlich reden oder ruhig zuhören, er drückt sich subtil aus oder sehr kraftvoll. Und er hat einen unglaublichen Sinn für Humor. Vor allem ist er sehr freundlich und besorgt um mein Wohlbefinden ("Sitzt Du bequem, Frank?").

Wilbers Erscheinung ist bemerkenswert. An seinen kahlen Schädel muß man sich erst gewöhnen. Als Zweites fällt Seine Ausdrucksfähigkeit auf; alles was er sagt, unterstreicht er mit großen Gesten. Das Leben in großer Höhe bei sonnigem Klima hat seine Haut gebräunt und läßt diesen zurückgezogenen Eremiten vital aussehen. In Jeans und einem viel zu weiten Hemd erfüllt er das Image, das sich von ihm verbreitet hat: Er lebt für seine Arbeit, zurückgezogen, und kümmert sich nicht sehr um sein Erscheinungsbild.

REGRESSIV

Eine der ersten Fragen, die ich stelle, war, warum er nicht zu der Konferenz gekommen war, die sein Werk betraf. Die Artikel in der ReVision hätten ihn nicht überzeugt, daß das sinnvoll sei, erklärt er. Er sei enttäuscht von der mittelmäßigen Qualität der meisten Beiträge. Und obwohl er die Kritik aus den Reihen der Feministinnen, Ökologen oder Tiefenpsychologen verstehen kann, meint er, das sie in einem regressiven Rahmen stattfindet, der die Qualitäten der Moderne nicht ausreichend würdigt.

Während die Stunden verfliegen wird mir kristallklar, warum er immer in seinen Schriften so viele Vorbehalte gegen den Großteil der alternativen und transpersonalen Szene äußert. Wie jeder mit seinem Werk Vertraute weiß, hält Wilber das meiste, wenn nicht sogar alles an Modellen der menschlichen Entwicklung im New Age und der Neuen Wissenschaft für regressiv oder für reduktionistisch, egal wie sehr diese sich selbst als vielversprechende Synthese zwischen Wissenschaft und Spiritualität präsentieren.

In seinem umfangreichen Werk Sex, Ecology, Spirituality hat er, zum erstenmal offen, seine scharfe Kritik an diesen zweifelhaften Trends der zeitgenössischen "Spiritualität" formuliert -- was ihm ein paar neue Feinde einbrachte. Tatsächlich war bei der Konferenz der Hauptpunkt vieler Beiträge, daß er, als spirituelle Autorität, seine Verantwortung kennen sollte und mehr Mitgefühl und Respekt gegenüber anderen Ansichten zu zeigen hätte. In seiner Art zu kritisieren wurde für unspirituell gehalten...

PLÖTZLICH SCHARF

Ich halte ihm dies entgegen und plötzlich wird er scharf und sehr konzentriert. Nach seiner Meinung geht die Tiefe der spirituellen Traditionen fast völlig in den populären Ansichten der Spiritualität verloren, von der Aquarian Conspiracy [Wassermann-Verschwörung, der Titel eines Buches von Marilyn Ferguson] bis zur Celestine Prophecy [Himmlische Prophezeiung, ein Buch von James Redfield].

Um zu zeigen, warum seine Sicht von all dem abweicht, erklärt er mir, daß alle diese Ansichten oft eine höchst Dualistische Weltsicht enthalten (ganz im Gegensatz zu ihren holistischen Behauptungen). Sie reden von nur zwei Polen: Ich und Selbst (Jung), Ich und Grund (Washburn), Ich und Essenz (Hameed Ali), Ich und Körper (Lowen), etc. (Interessanterweise macht Wilber in seinen ersten beiden Büchern Spectrum of Consciousness und No Boundary dasselbe, wo er über Ich und Geist schreibt, FV.)

Die generelle Argumentation bei diesen Autoren verläuft so: Am Anfang seiner/ihrer Entwicklung ist der Mensch in einem Zustand der Einheit mit dem Selbst, jedoch unbewußt. Während des Erwachsenwerdens wird diese transzendente Wirklichkeit unterdrückt, und das Ich entwickelt sich. Dieses Ich verliert nicht nur den Kontakt zu seinem Körper, sondern auch mit der spirituellen Dimension. Um als Erwachsener wieder spirituell zu werden, müssen wir deshalb diese Unterdrückung rückgängig machen, so daß das Ich wieder mit dem Selbst in Verbindung kommen kann, aber diesmal auf bewußte Weise. Der mittleren Phase von Ich und Geist wird auf diese Art eine negative Qualität zugeschrieben, und spirituelle Entwicklung wird zum Konzept eines Regressionsprozesses. Wir müssen zu etwas zurückkehren, das wir verloren haben.

Oft werden nur zwei Kategorien anerkannt: eine "gute" und eine "schlechte". "Gut" heißt: Natur, der Körper, Holismus, Einheit, Vernetzung, primitive Kulturen, das Weibliche, Quantenphysik, etc. "Schlecht" heißt: Kultur, Geist, Atomismus, Teilung, Hierarchie, die Moderne, das Männliche, klassische Physik, etc.

DIE DIMENSION DER TIEFE

Wilber kritisiert diese dualistische Ansicht mit einer bislang nicht vorgekommenen Vehemenz. Sogenannte Neue Wissenschaft -- ein Mischmasch aus Systemtheorie, Holographie, Quantenphysik, Chaostheorie, oder jeder beliebigen neuen wissenschaftlichen Mode -- ist für Wilber genauso materialistisch wie die sehr verachtete Alte Wissenschaft Descartes' und Newtons (der eigentlich sehr holistische Ansichten über die Wirklichkeit vorgestellt hatte). Sowohl Atomismus wie Holismus sind Flachland-Ideologien, wohingegen wir als Pioniere in die Tiefen-Dimension des menschlichen Bewußtseins aufbrechen sollten.

Einheit ist nicht spiritueller als Teilung, fügt er schnell hinzu, denn es gibt unreife Formen der Einheit ebenso wie reife und spirituelle Formen der Zerteilung. Beide sind für eine gesunde Entwicklung notwendig. Viele halten die Natur für spiritueller (denn sie sei kosmisch) als die Kultur (die "nur" eine menschliche Erfindung sei). Für Wilber ist es genau andersherum: Natur ist göttlich, wahr genug, aber in der Welt der Kultur drückt sich der menschliche Geist aus, der spiritueller als die unbewußte Natur ist. Sogenannte primitive Kulturen sind nicht automatisch spiritueller als die sogenannte verweltlichte westliche Kultur. Sie können sehr dogmatisch sein, eine Gruppenmentalität kultivieren und das Wachstum des Individuums verhindern.

Der Körper wird in manchen Kreisen als die Heimstatt der Spiritualität angesehen, denn er wird als wirklicher und energetischer angesehen als das geisterhafte Ich: Wir sollten nicht so sehr in unseren Köpfen leben, sondern auf den Boden unserer Sinne herunter kommen, etwas ist nur wirklich, wenn es durch den Körper erfahren wird, etc. In scharfem Gegensatz dazu sieht Wilber die menschliche Fähigkeit, den Körper zu transzendieren als Zeichen der Entwicklung und daher als einen Schritt hin zur Spiritualität an.

Und schließlich ist das Weibliche nicht automatisch spiritueller als das Männliche, stellt er fest, obwohl man diesen Eindruck bei vieler ökologischer und feministischer Literatur bekommt. Männer werden geschildert als dumpfe Kreaturen, die Kriege führen und Frauen unterdrücken, wohingegen Frauen als die spirituelleren angenommen werden, da sie wissen, wie man in Beziehungen lebt und gut darin sind, Verbindungen zu schaffen. Für Wilber sind Männer und Frauen gleichermaßen spirituell oder unspirituell, denn beide müssen einen schwierigen Prozeß durchlaufen: vom Prä-Personalen zum Personalen zum Trans-Personalen. Männer tun dies auf ihre Art, und betonen dabei ihre Agenz, Frauen tun es auf ihre Weise und betonen ihre Kommunion, aber keine von beiden sind im Wesentlichen spiritueller als die anderen.

Aus diesem Grund schlägt Wilber ein dreistufiges Entwicklungsmodell vor: Durchlaufen werden die Stadien vom Prä-Personalen zum Personalen zum Trans-Personalen. Man kann hier an analoge Dreischritte denken wie z.B.: Körper, Seele, Geist ; Instinkt, Intellekt, Intuition; mythisch, mental, mystisch; tierhaft, menschlich, göttlich; etc. Und das ist der wesentliche Punkt: das erste Stadium, das im zweistufigen Modell für "gut" gehalten wird, ist nun die primitivste Phase. Und das zweite Stadium, das dort für "schlecht" gehalten wird -- Ich, Geist, westliche Kultur -- ist nun ein wirklicher Schritt vorwärts in Richtung Spiritualität.

Kurz: In unserer Entwicklung, individuell wie kulturell, bewegen wir uns nicht von Gut zu Schlecht, sondern von Gut zu Besser zum Besten. Das Ich ist nicht länger der Feind des Geistes , sondern sein bester Freund, denn es hebt uns aus der unbewußten Natur. Die typischen modernen Werte wie Rationalität und Individualität werden in diesen beiden Modellen sehr unterschiedlich bewertet.

Man kann die beiden Ansichten sehr leicht erkennen -- an der Art wie sie Ich und Geist bewerten. Welcher zeitgenössische spirituelle Weg z.B. fördert vergleichende Studien und intensive intellektuelle Arbeit? Die Arbeit am Körper und an den Gefühlen wird von vielen als spiritueller angesehen als der Gebrauch des eigenen Verstandes -- und das ist es, was Wilber die regressive Tendenz nennt. Wenn Du diesen Punkt verstanden hast, brauchst Du nicht alle seine fünfzehn Bücher zu lesen, geht es mir durch den Kopf.

ROMANTIK VS. IDEALISMUS

Wir fangen an ein aufgewärmtes Sandwich zu essen, aber es wird wieder kalt. Wilber erklärt, daß sein Punkt in der Geschichte der westlichen Philosophie wiedergefunden werden kann. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert reagierten zwei Bewegungen auf die vorherrschende rationalistische Kultur der Aufklärung. Die Romantik kehrte dem Verstand den Rücken und erklärte die Natur, den Körper und die Gefühle für heilig, und sie verfocht die Rückkehr zu einer göttlichen Natur.

Im Gegensatz dazu hielt der Idealismus zwar auch die Natur für göttlich, aber es war eine schlummernde Gottheit, wohingegen Gott im Menschen zu erwachen begann. Wir können heute leicht Gott in der Natur sehen, aber sehen wir ihn in der Kultur am Werk? In modernen Errungenschaften wie der Demokratie, der Abschaffung der Sklaverei, Menschenrechten, Befreiungsbewegungen, Rationalität, Toleranz, etc.?

Für die Idealisten folgte hierauf ein drittes Stadium, in dem der Geist seiner selbst bewußt wird. Spiritualität hat ausschließlich mit dieser dritten Phase zu tun, so Wilber, und nicht mit anti-rationalistischer Romantisierung der Natur. Im Endeffekt blockiert diese Romantisierung sogar das spirituelle Wachstum. Und so etwas als Spiritualität zu verkaufen sei grausam -- fügt Wilber leidenschaftlich hinzu -- denn es verlängert das Leiden, anstatt es zu beenden. Weil er in vielen Ansichten "die Tiefe einen Urlaub nehmen" sieht, hat er sich entschieden, das Wort zu ergreifen und diese Ansichten offen zu kritisieren. "Kritik hat spirituellen Wert", damit beendet er seinen Vortrag.

Irgendwann sagt er, es sei Zeit für ihn ins Bett zu gehen und läßt mich im Zimmer zurück mit einer Flasche holländischen Bieres und dem Ausblick auf die Nacht über Denver. Das war alles ziemlich verwirrend, und ich versuche die letzen paar Stunden zu verdauen. Das New Age sucht nach einem schlafenden Gott? Rationalität ein Schritt zur Spiritualität? Sekularisation ein Akt Gottes? Zumindest höchst ungewöhnliche Ansichten...

Weil der Schlaf in jener Nacht nicht leicht kommen will -- wer kann schon schlafen, unter einem Dach mit seinem Idol? -- streiche ich durch das Erdgeschoß seines dreistöckigen Hauses. Die Tausende von Büchern, die er gelesen haben soll, sind alle wirklich da, sauber nach Thema geordnet. Die vielen Übersetzungen seiner Bücher -- es sind derzeit 15 Bücher in 16 Übersetzungen -- sind auf Regalen ausgestellt. Da sind viele deutsche, spanische und portugiesische Übersetzungen, aber auch chinesische und japanische. Eine chinesische Übersetzung von No Boundary in der Hand zu haben ist wirklich eine seltsame Erfahrung! Der erste Stock enthält eine Küche und ein Wohnzimmer mit einem großen Farbfernseher, der dauernd seinen Lieblingskanal zeigt, Travel Channel, der für Reisen nach Europa wirbt. Im obersten Stockwerk arbeitet und schläft er, auch hier sind viele Bücher gestapelt.

GEHIRNWELLEN

Am nächsten Morgen zeigt Wilber mir -- nicht ohne einen gewissen Stolz -- ein Video, das bei einer Meditation gemacht wurde, während er an ein EEG angeschlossen war. Die Maschine registriert Beta-Wellen (normaler Wachzustand), Alpha-Wellen (entspannter Wachzustand), Theta-Wellen (Traum) und Delta-Wellen (Tiefschlaf). Wilber kann in vier Sekunden einen Zustand erreichen, in dem sämtliche Aktivität auf Null fällt, ausgenommen leichte Delta-Bewegungen. "Das ist Nirvana", sagt Wilber beiläufig, "Nirvikalpa Samadhi". Mir stockt der Atem. Ist das so leicht? Oder doch nicht so leicht -- Wilber hat schon seit zwanzig Jahren Zen praktiziert.

Das bringt ihn zu einem seiner Lieblingsthemen: Bis hinauf zu den höchsten Bewußtseinszuständen ist es möglich, physiologische Prozesse im Gehirn zu messen, jedoch sagt diese Messung nichts über die subjektive Seite dieser Erfahrung aus. Die exakte wissenschaftliche Forschung ist untrennbarer Bestandteil seines Ansatzes.

Wir nehmen den Jeep und fahren höher in die Berge um die wundervollen Aussichten über die Ebenen von Denver zu genießen. Ein Hirsch überquert die Straße. Obwohl Wilber sehr gerne in San Francisco leben würde -- er ist ein Stadtmensch, vertraut er mir an -- ist die stille Athmosphäre in Boulder ideal zum Schreiben für ihn. Dann fahren wir hinunter nach Boulder, einer Universitätsstadt, die nicht nur die Universität von Colorado beherbergt, sondern auch das von Chögyam Trungpa gegründete Naropa Institut. Als wir uns in ein Café setzen -- wir haben nur noch eine halbe Stunde bevor der Minibus mich zurück zum Denver Airport bringt -- ist für den Augenblick nicht mehr viel zu sagen, und ich lasse einen Einwohner von Boulder ein Bild von uns beiden aufnehmen. Diese Trophäe will ich mit nach Hause nehmen!

Ein witziger Dialog entspinnt sich zwischen Ken und dem Café-Eigentümer, der uns offenbar nicht recht einordnen kann:
"Woher kennt Ihr Euch?"
"Er ist der Übersetzer meiner Bücher in Holland."
"Und über was schreibst Du so?"
"Über Ost-Westliche Sachen, Psychologie, Philosophie, so Zeugs halt."
"Oh, Klasse."
"Eines meiner letzten Bücher heißt A Brief History of Everything . Es liegt in den Buchhandlungen aus. Du kannst es leicht erkennen, es hat mein häßliches Gesicht vorne drauf."
"Klar, dann muß ich es lesen, schließlich muß ich wissen was meine Kunden so treiben."

Selbst in seiner Heimatstadt kann ein weltberühmter Autor unbekannt sein! Er spricht die Imagination bei der jetzigen Studentengeneration nicht so an wie bei den älteren Studenten, erklärt Wilber mir. Er kann in ein Café oder ins Kino gehen, ohne jede Sekunde erkannt zu werden. Auch in Boulder ändern sich die Zeiten: das große Interesse der Jugend an spirituellen Dingen hat seit den Sechzigern und Siebzigern stark abgenommen.

Als der Augenblick des Abschieds gekommen ist sagt Wilber halb im Scherz: "Ich bin ein Amerikaner, also müssen wir uns umarmen." Nun, ich bin ein Holländer, aber hierin sind wir uns ähnlich: Zwei Männer, beide besessen von dem Projekt Spiritualität wissenschaftlich zu erklären, etwas angespannt bei Körperkontakt, aber mit tiefer Sympathie füreinander. Mit großer Geste umarmt er mich und drückt mich an die Brust. Und dann ist er mit seinem Jeep in die Berge verschwunden.

DICHTER NEBEL

Als ich in Denver ankomme, ist der Flughafen von einer dichten Nebelschicht eingehüllt. In den nächsten vier Stunden ist er für alle Flüge geschlossen. Wilber hatte in einer der ReVision s, die seinem Werk gewidmet waren, geschrieben:

"Viele sehen nur zu klar den traurigen Zustand unseres Gebietes. Sie sind wirklich alarmiert von dem reaktionären, antiprogressiven und regressiven Nebel, der über das ganze Gebiet kriecht." (vol. 19, nr. 2, pp. 30-31)

Es ist als ob die Natur dies für uns noch einmal unterstreichen wollte.


Frank Visser (geb. 1958) hat The Atman Project und A Brief History of Everything ins Niederländische übersetzt. Zur Zeit arbeitet er an einem einführenden Buch über Wilber. Sein Hauptinteresse liegt im Vergleich von Paradigmen innerhalb der transpersonalen Psychologie und der Schnittstelle zwischen dieser und esoterischem Gedankengut. Über letzteres Thema hat er ein Buch mit dem Titel Seven Spheres geschrieben (1995).


Anmerkungen:
- Die deutschen Titel der genannten Bücher Ken Wilbers sind unter "Translations" aufgelistet.
- Die Übersetzung ist nicht wortgetreu, aber von Frank Visser autorisiert.
- In [ ] = A.d.Ü.
Übersetzt von Thorolf Weißhuhn